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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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heit und Vernunftthätigkeit, ergibt sich eine Sonderung der Bahnen, die Ab¬
weichung dieser voneinander erweitert sich in zunehmendem Maß in der Rich¬
tung auf verschiedene Endpunkte. Wenn der Unterbau gemeinsam war, so
stehen mindestens die Giebelfelder weit voneinander ab. Eine Culturgeschichte
hat die Summe der gestimmten Entwicklungsstufen und Errungenschaften eines
Volks als ein der Vernunftthätigkeit vorzugsweise verdanktes großes Capital
darzuthun. Wol kommt bei ihr auch der Grundstamm naturwüchsiger Natio¬
nalität in Anschlag, aber nur wie er. durch die Actien der Cultur ausgebeutet
und gehoben, dieser zu gut gekommen ist. Ihre Aufgabe ist Progression und
Amplisication von den Realitäten der Natur zu den Ideen der Vernunft, sie
verallgemeinert und sucht die Beziehungen nationaler Bildung zu der gemeinsam
menschheitlicher nachzuweisen. Sie hat ihre Ausgänge in den unermeßlichen
Räumen des Reichs der Vernunft, sie preist die erhabensten Gipfel menschlicher
Bildung als ihre theuersten Kleinode, unter welchem Nationalitätsgcpräge sie
auch erstiegen werden mögen; sie hebt vorzugsweise die Koryphäen jener als
Repräsentanten des großen Gesammtccipitals der Vernunft aus den Völker-
gruppcn hervor. Wo sie im weitesten Abstand von dem naturhistorischen
Typus dieser gipfelt, hat sie die stolzeste Flora. -- Anders die historische
Ethnographie, die Geschichte von Nationalitäten. Diese geht immerfort auf
die charakteristischen Merkmale nationaler Naturwüchsigkeit, das Besondere,
das Individuelle, als ihr leitendes Princip zurück und verfolgt die Verzwei¬
gung der Cultur in jene als etwas Zugebrachtes. Angebildetes, womit das
aus natürlichem Stammtriebe Erwachsene sich belebt und befruchtet; sie ver¬
geistigt sich nicht in den idealen Größen der Cultur, sondern haftet an den
Gestaltungen des von der Naturnothwendigkeit stammenden Substrats der
Nationalität. Sie sucht sür diese nicht in dem Gebiet der Cultur einen Platz
zu bestimmen, wo solche ihre Selbstständigkeit höheren Gebot unterzuordnen
hätte, sondern nimmt aus der Schatzkammer des großen menschheitlicher Capitals
die Barren edlen Metalls sür ihre Sonderhallen und drückt ihnen hier ihr
Gepräge aus. Diese Währung des Besondern ist durch allen Wechsel, Um-
und Aufschwung allgemeiner Bildung immerfort der Appell, der sie aus ihren
Posten ruft.

Bei dieser Aufgabe nun. das specifisch Nationale aus der es überfluten¬
den Weltcultur zu sondern, scheint die Arbeit auf enge Grenzen und nicht eben
belohnende Ausbeute angewiesen zu sein. Das Gebiet der gemeinsamen
menschlichen Cultur hat sich zu einem schwer übersehbaren Umfang ausgedehnt,
das Angestammte der Nationalitäten ist mehr und mehr zurückgewichen, das
Individuelle wird bedroht mit zunehmender Verflachung. mit der Gefahr unter
den Formen genereller Cultur zu verschwimmen. Nach dem, was aus älterer
Zeit dem Völkerleben mehr oder minder gemeinsam geworden und zum Theil


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heit und Vernunftthätigkeit, ergibt sich eine Sonderung der Bahnen, die Ab¬
weichung dieser voneinander erweitert sich in zunehmendem Maß in der Rich¬
tung auf verschiedene Endpunkte. Wenn der Unterbau gemeinsam war, so
stehen mindestens die Giebelfelder weit voneinander ab. Eine Culturgeschichte
hat die Summe der gestimmten Entwicklungsstufen und Errungenschaften eines
Volks als ein der Vernunftthätigkeit vorzugsweise verdanktes großes Capital
darzuthun. Wol kommt bei ihr auch der Grundstamm naturwüchsiger Natio¬
nalität in Anschlag, aber nur wie er. durch die Actien der Cultur ausgebeutet
und gehoben, dieser zu gut gekommen ist. Ihre Aufgabe ist Progression und
Amplisication von den Realitäten der Natur zu den Ideen der Vernunft, sie
verallgemeinert und sucht die Beziehungen nationaler Bildung zu der gemeinsam
menschheitlicher nachzuweisen. Sie hat ihre Ausgänge in den unermeßlichen
Räumen des Reichs der Vernunft, sie preist die erhabensten Gipfel menschlicher
Bildung als ihre theuersten Kleinode, unter welchem Nationalitätsgcpräge sie
auch erstiegen werden mögen; sie hebt vorzugsweise die Koryphäen jener als
Repräsentanten des großen Gesammtccipitals der Vernunft aus den Völker-
gruppcn hervor. Wo sie im weitesten Abstand von dem naturhistorischen
Typus dieser gipfelt, hat sie die stolzeste Flora. — Anders die historische
Ethnographie, die Geschichte von Nationalitäten. Diese geht immerfort auf
die charakteristischen Merkmale nationaler Naturwüchsigkeit, das Besondere,
das Individuelle, als ihr leitendes Princip zurück und verfolgt die Verzwei¬
gung der Cultur in jene als etwas Zugebrachtes. Angebildetes, womit das
aus natürlichem Stammtriebe Erwachsene sich belebt und befruchtet; sie ver¬
geistigt sich nicht in den idealen Größen der Cultur, sondern haftet an den
Gestaltungen des von der Naturnothwendigkeit stammenden Substrats der
Nationalität. Sie sucht sür diese nicht in dem Gebiet der Cultur einen Platz
zu bestimmen, wo solche ihre Selbstständigkeit höheren Gebot unterzuordnen
hätte, sondern nimmt aus der Schatzkammer des großen menschheitlicher Capitals
die Barren edlen Metalls sür ihre Sonderhallen und drückt ihnen hier ihr
Gepräge aus. Diese Währung des Besondern ist durch allen Wechsel, Um-
und Aufschwung allgemeiner Bildung immerfort der Appell, der sie aus ihren
Posten ruft.

Bei dieser Aufgabe nun. das specifisch Nationale aus der es überfluten¬
den Weltcultur zu sondern, scheint die Arbeit auf enge Grenzen und nicht eben
belohnende Ausbeute angewiesen zu sein. Das Gebiet der gemeinsamen
menschlichen Cultur hat sich zu einem schwer übersehbaren Umfang ausgedehnt,
das Angestammte der Nationalitäten ist mehr und mehr zurückgewichen, das
Individuelle wird bedroht mit zunehmender Verflachung. mit der Gefahr unter
den Formen genereller Cultur zu verschwimmen. Nach dem, was aus älterer
Zeit dem Völkerleben mehr oder minder gemeinsam geworden und zum Theil


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[0235] heit und Vernunftthätigkeit, ergibt sich eine Sonderung der Bahnen, die Ab¬ weichung dieser voneinander erweitert sich in zunehmendem Maß in der Rich¬ tung auf verschiedene Endpunkte. Wenn der Unterbau gemeinsam war, so stehen mindestens die Giebelfelder weit voneinander ab. Eine Culturgeschichte hat die Summe der gestimmten Entwicklungsstufen und Errungenschaften eines Volks als ein der Vernunftthätigkeit vorzugsweise verdanktes großes Capital darzuthun. Wol kommt bei ihr auch der Grundstamm naturwüchsiger Natio¬ nalität in Anschlag, aber nur wie er. durch die Actien der Cultur ausgebeutet und gehoben, dieser zu gut gekommen ist. Ihre Aufgabe ist Progression und Amplisication von den Realitäten der Natur zu den Ideen der Vernunft, sie verallgemeinert und sucht die Beziehungen nationaler Bildung zu der gemeinsam menschheitlicher nachzuweisen. Sie hat ihre Ausgänge in den unermeßlichen Räumen des Reichs der Vernunft, sie preist die erhabensten Gipfel menschlicher Bildung als ihre theuersten Kleinode, unter welchem Nationalitätsgcpräge sie auch erstiegen werden mögen; sie hebt vorzugsweise die Koryphäen jener als Repräsentanten des großen Gesammtccipitals der Vernunft aus den Völker- gruppcn hervor. Wo sie im weitesten Abstand von dem naturhistorischen Typus dieser gipfelt, hat sie die stolzeste Flora. — Anders die historische Ethnographie, die Geschichte von Nationalitäten. Diese geht immerfort auf die charakteristischen Merkmale nationaler Naturwüchsigkeit, das Besondere, das Individuelle, als ihr leitendes Princip zurück und verfolgt die Verzwei¬ gung der Cultur in jene als etwas Zugebrachtes. Angebildetes, womit das aus natürlichem Stammtriebe Erwachsene sich belebt und befruchtet; sie ver¬ geistigt sich nicht in den idealen Größen der Cultur, sondern haftet an den Gestaltungen des von der Naturnothwendigkeit stammenden Substrats der Nationalität. Sie sucht sür diese nicht in dem Gebiet der Cultur einen Platz zu bestimmen, wo solche ihre Selbstständigkeit höheren Gebot unterzuordnen hätte, sondern nimmt aus der Schatzkammer des großen menschheitlicher Capitals die Barren edlen Metalls sür ihre Sonderhallen und drückt ihnen hier ihr Gepräge aus. Diese Währung des Besondern ist durch allen Wechsel, Um- und Aufschwung allgemeiner Bildung immerfort der Appell, der sie aus ihren Posten ruft. Bei dieser Aufgabe nun. das specifisch Nationale aus der es überfluten¬ den Weltcultur zu sondern, scheint die Arbeit auf enge Grenzen und nicht eben belohnende Ausbeute angewiesen zu sein. Das Gebiet der gemeinsamen menschlichen Cultur hat sich zu einem schwer übersehbaren Umfang ausgedehnt, das Angestammte der Nationalitäten ist mehr und mehr zurückgewichen, das Individuelle wird bedroht mit zunehmender Verflachung. mit der Gefahr unter den Formen genereller Cultur zu verschwimmen. Nach dem, was aus älterer Zeit dem Völkerleben mehr oder minder gemeinsam geworden und zum Theil 29*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/235>, abgerufen am 23.07.2024.