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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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der Physiologie organischer Körper genommen. Ihr wissenschaftliches Princip
geht dahin, die einzelnen Völker in der Richtung auf das menschheitliche
Ganze nach physiologischen Grundeigenschaften zu classificiren. Sie ist hin¬
aufgestiegen zu dem Nacentypus und hat auch wol die Ueberlieferung von
einem primitiven Stammpaar des Menschengeschlechts mit der Genesis einer
Verschiedenheit der Racen in Einklang zu bringen gesucht.

Die Ethnographie auf das rein Physiologische beschränken zu wollen, ist
nicht die Meinung sämmtlicher Pfleger dieser Wissenschaft. Es ist vielmehr
ausgesprochen wordeu, daß das gesammte Sein und Leben der Völker, wie
es in der Gegenwart sich darstellt, darin anschaulich zu machen sei. Mit
dieser Erweiterung ihrer Grenzen stellt sie sich auf den Boden historischer Wissen¬
schaften und als ihr wissenschaftlicher Gehalt erscheint die Nationalität,
erwachsen aus physiologischen und historischen Elementen. Alle Ehre nun vom
Gesichtspunkt des gestimmten Fachgebäudes der Wissenschaften der Ethnographie
in ihrer naturhistorischen Haltung und in ihrer Erweiterung in das Gebiet der
historischen Wissenschaften; nicht minder dem glücklichen Griff, den nicht mit
seiner Naturgeschichte des Volks als socialer Ethnographie gethan hat. Wie
sehr aber auch diese als dankenswerthe Belebung und Befruchtung der naturhisto¬
rischen Bildergalerie der Ethnographie anzuerkennen ist, so fühlt doch die
Geschichte sich berufen, gegen die Ethnographie, insofern sie sich auf die bloße
Gegenwart stellt, einen Aneignungsproceß anzustellen. Mag es erlaubt sein,
hier mit fremder Zunge zu reden (Augsb. A. Z. 1353, Ur. 37): "In der
Regel können wir uns mit einer bloßen Darstellung der Gegenwart eines
Volkes nicht begnügen, sondern wir wünschen auch zu wissen, wie und wo¬
durch es so ward, wie es ist . . . Als nicht vor einigen Jahren die Alt-
baiern schilderte, vermied er noch die Frage, durch welche Einwirkungen seit
alter Zeit der Charakter jenes interessanten Nolksstammcs sich so ausgebil¬
det. Als er aber neuerdings sich den Pfülzern zuwandte, da hielt er es für
nöthig, auf die Franken, die Alemannen, ja die Römer und die Kelten zurückzu¬
greifen ... In der That kann es keinem Zweifel unterworfen sein, daß die
Urgeschichte, welche uns gewissermaßen die Ulstoffe zeigen soll, aus denen die
gemischten Nationalitüten der Gegenwart entstanden sind, für die Ethnographie
. . . vom höchsten Werth ist." Was hier im Betreff von Urgeschichten ge¬
sagt ist, gilt von der Geschichte überhaupt in ihrem Verhältniß zur Ethno¬
graphie. Ihr genügt nicht die Erweiterung der Ethnographie zu einer Dar¬
stellung der gesammten Fülle der Nationalität in der Gegenwart; sie macht
Anspruch auf einen ihr gebührenden weit gewichtigern Antheil an der Ethno¬
graphie mit der Behauptung, daß die Gegenwart der Nationalitäten als
Resultat eines Bildungsprocesses, in welchem nicht das physiologische Gesetz
allein, sondern menschliche Freiheit und Vernunftthätigkeit neben und mit


der Physiologie organischer Körper genommen. Ihr wissenschaftliches Princip
geht dahin, die einzelnen Völker in der Richtung auf das menschheitliche
Ganze nach physiologischen Grundeigenschaften zu classificiren. Sie ist hin¬
aufgestiegen zu dem Nacentypus und hat auch wol die Ueberlieferung von
einem primitiven Stammpaar des Menschengeschlechts mit der Genesis einer
Verschiedenheit der Racen in Einklang zu bringen gesucht.

Die Ethnographie auf das rein Physiologische beschränken zu wollen, ist
nicht die Meinung sämmtlicher Pfleger dieser Wissenschaft. Es ist vielmehr
ausgesprochen wordeu, daß das gesammte Sein und Leben der Völker, wie
es in der Gegenwart sich darstellt, darin anschaulich zu machen sei. Mit
dieser Erweiterung ihrer Grenzen stellt sie sich auf den Boden historischer Wissen¬
schaften und als ihr wissenschaftlicher Gehalt erscheint die Nationalität,
erwachsen aus physiologischen und historischen Elementen. Alle Ehre nun vom
Gesichtspunkt des gestimmten Fachgebäudes der Wissenschaften der Ethnographie
in ihrer naturhistorischen Haltung und in ihrer Erweiterung in das Gebiet der
historischen Wissenschaften; nicht minder dem glücklichen Griff, den nicht mit
seiner Naturgeschichte des Volks als socialer Ethnographie gethan hat. Wie
sehr aber auch diese als dankenswerthe Belebung und Befruchtung der naturhisto¬
rischen Bildergalerie der Ethnographie anzuerkennen ist, so fühlt doch die
Geschichte sich berufen, gegen die Ethnographie, insofern sie sich auf die bloße
Gegenwart stellt, einen Aneignungsproceß anzustellen. Mag es erlaubt sein,
hier mit fremder Zunge zu reden (Augsb. A. Z. 1353, Ur. 37): „In der
Regel können wir uns mit einer bloßen Darstellung der Gegenwart eines
Volkes nicht begnügen, sondern wir wünschen auch zu wissen, wie und wo¬
durch es so ward, wie es ist . . . Als nicht vor einigen Jahren die Alt-
baiern schilderte, vermied er noch die Frage, durch welche Einwirkungen seit
alter Zeit der Charakter jenes interessanten Nolksstammcs sich so ausgebil¬
det. Als er aber neuerdings sich den Pfülzern zuwandte, da hielt er es für
nöthig, auf die Franken, die Alemannen, ja die Römer und die Kelten zurückzu¬
greifen ... In der That kann es keinem Zweifel unterworfen sein, daß die
Urgeschichte, welche uns gewissermaßen die Ulstoffe zeigen soll, aus denen die
gemischten Nationalitüten der Gegenwart entstanden sind, für die Ethnographie
. . . vom höchsten Werth ist." Was hier im Betreff von Urgeschichten ge¬
sagt ist, gilt von der Geschichte überhaupt in ihrem Verhältniß zur Ethno¬
graphie. Ihr genügt nicht die Erweiterung der Ethnographie zu einer Dar¬
stellung der gesammten Fülle der Nationalität in der Gegenwart; sie macht
Anspruch auf einen ihr gebührenden weit gewichtigern Antheil an der Ethno¬
graphie mit der Behauptung, daß die Gegenwart der Nationalitäten als
Resultat eines Bildungsprocesses, in welchem nicht das physiologische Gesetz
allein, sondern menschliche Freiheit und Vernunftthätigkeit neben und mit


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[0232] der Physiologie organischer Körper genommen. Ihr wissenschaftliches Princip geht dahin, die einzelnen Völker in der Richtung auf das menschheitliche Ganze nach physiologischen Grundeigenschaften zu classificiren. Sie ist hin¬ aufgestiegen zu dem Nacentypus und hat auch wol die Ueberlieferung von einem primitiven Stammpaar des Menschengeschlechts mit der Genesis einer Verschiedenheit der Racen in Einklang zu bringen gesucht. Die Ethnographie auf das rein Physiologische beschränken zu wollen, ist nicht die Meinung sämmtlicher Pfleger dieser Wissenschaft. Es ist vielmehr ausgesprochen wordeu, daß das gesammte Sein und Leben der Völker, wie es in der Gegenwart sich darstellt, darin anschaulich zu machen sei. Mit dieser Erweiterung ihrer Grenzen stellt sie sich auf den Boden historischer Wissen¬ schaften und als ihr wissenschaftlicher Gehalt erscheint die Nationalität, erwachsen aus physiologischen und historischen Elementen. Alle Ehre nun vom Gesichtspunkt des gestimmten Fachgebäudes der Wissenschaften der Ethnographie in ihrer naturhistorischen Haltung und in ihrer Erweiterung in das Gebiet der historischen Wissenschaften; nicht minder dem glücklichen Griff, den nicht mit seiner Naturgeschichte des Volks als socialer Ethnographie gethan hat. Wie sehr aber auch diese als dankenswerthe Belebung und Befruchtung der naturhisto¬ rischen Bildergalerie der Ethnographie anzuerkennen ist, so fühlt doch die Geschichte sich berufen, gegen die Ethnographie, insofern sie sich auf die bloße Gegenwart stellt, einen Aneignungsproceß anzustellen. Mag es erlaubt sein, hier mit fremder Zunge zu reden (Augsb. A. Z. 1353, Ur. 37): „In der Regel können wir uns mit einer bloßen Darstellung der Gegenwart eines Volkes nicht begnügen, sondern wir wünschen auch zu wissen, wie und wo¬ durch es so ward, wie es ist . . . Als nicht vor einigen Jahren die Alt- baiern schilderte, vermied er noch die Frage, durch welche Einwirkungen seit alter Zeit der Charakter jenes interessanten Nolksstammcs sich so ausgebil¬ det. Als er aber neuerdings sich den Pfülzern zuwandte, da hielt er es für nöthig, auf die Franken, die Alemannen, ja die Römer und die Kelten zurückzu¬ greifen ... In der That kann es keinem Zweifel unterworfen sein, daß die Urgeschichte, welche uns gewissermaßen die Ulstoffe zeigen soll, aus denen die gemischten Nationalitüten der Gegenwart entstanden sind, für die Ethnographie . . . vom höchsten Werth ist." Was hier im Betreff von Urgeschichten ge¬ sagt ist, gilt von der Geschichte überhaupt in ihrem Verhältniß zur Ethno¬ graphie. Ihr genügt nicht die Erweiterung der Ethnographie zu einer Dar¬ stellung der gesammten Fülle der Nationalität in der Gegenwart; sie macht Anspruch auf einen ihr gebührenden weit gewichtigern Antheil an der Ethno¬ graphie mit der Behauptung, daß die Gegenwart der Nationalitäten als Resultat eines Bildungsprocesses, in welchem nicht das physiologische Gesetz allein, sondern menschliche Freiheit und Vernunftthätigkeit neben und mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/232>, abgerufen am 22.07.2024.