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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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jedoch winklige Resultate für seine ganze Schilderung ergeben. Schon
durch diese wahrhaft tüchtige Sachkenntnis- hat Chrysander einen unendlichen
Vorsprung vor der fast gesammten Musikschrislstellerci der heutigen Tage, der
es, Gott seis geklagt, oft genug an positiver Kenntniß und folglich an tüch¬
tig sachlicher Beurtheilung fehlt, sonst würden in der neuesten Musikliteratnr
sich nicht eine Masse Fragen herumtreiben, zu deren Erledigung es. bei aller¬
dings gründlichem Studium, in vielen Fällen nur einer zwanglos freien, un¬
mittelbar von der Sache selbst, nicht von selbstgefälligen Hypothesen aus¬
gehenden Fixirung bedürfte. Die unendliche Phrasenmacherei. welche in der
heutigen Musiklit'eratur sich breit wacht, und öfter ein Erzeugnis; persönlicher
Eitelkeit wie reeller Sachkenntniß ist. verwirrt den Gegenstand, auf den sie sich
wirft, statt ihm Klarheit zu verleihen. Unsere meisten Musikschriftsteller
können von Chrysander lernen, und ihm für sein Vorbild dankbar sein. --

Der vorliegende erste Land der Biographie umfaßt Handels Jugend und
Lehrjahre in Deutschland 1685--1706, und seine Wanderungen in Italien
und England bis zur Rückkehr vou Cannons 1720. Händel röurde 1685 zu
Giebichenstein bei Halle geboren; alle edeln Gemüthseigenschaften, welche sich
später in ihm entwickelten, findet Chrysander schon in seiner Mutter. Tochter
des Pastor Taufe zu Giebichenstein. vorgebildet: "den hellen Geist, die tiefe
Frömmigkeit und Bibelkenntniß, die starke Liebe zu den Eltern, die geringe
Neigung zur Heirath eben in der Blüte der Jugend, die Tüchtigkeit im ge¬
stimmten Tagewerk, den Ernst und die Sittsamteir. das alles hat sie mit ihm
gemein, hat'sie ihm eingebildet und eingeboren." Und in ähnlicher Weise
besaß der Vater "etwas von dem kühnen Drange nach außen und aufwärts,
von dem unbeugsamen Willen und der bis ins höchste Alter ungeschwächten
Kraft, von jenen Eigenschaften also, durch welche der Sohn die Bewunderung
der Zeitgenossen erregte, und seinem Genius nach langem Kampf zum Sieg
verhalf." Der damals in Deutschland allgemeine Widerwille gegen "die Pro¬
fession der Musik" wohnte auch Handels Vater inne, er wünschte, daß der
Sohn etwas Gutes lernen, und sich zu einem tüchtigen Juristen bilden möge,
deshalb durfte er die Kunst, für welche er von der Natur vorausbestimmt
war. im elterlichen Hause anfänglich nur heimlich und später zwar geduldet
ausüben, aber ihr keineswegs ganz angehören. Als er in Halle die lateinische
Schule bezog, wurde er jedoch dem Organisten Zachau (1663--1712) auch als
Schüler in der Tonkunst überwiesen. Wenngleich Zachau keine selbstständige
Bedeutung in der damaligen Kunstentwicklung gewann, und Händels Natur
von der seinigen grundverschieden war. so "trafen sie sich doch in der glück¬
lichen Zeit, wo Zachau noch frisch, und Händel seiner abweichenden Art sich
noch nicht bewußt war," und es ist anzunehmen, daß ervtüchtiger als Lehrer
Wie als Componist. Handels Studien eifrig und geschickt geleitet habe. Das


jedoch winklige Resultate für seine ganze Schilderung ergeben. Schon
durch diese wahrhaft tüchtige Sachkenntnis- hat Chrysander einen unendlichen
Vorsprung vor der fast gesammten Musikschrislstellerci der heutigen Tage, der
es, Gott seis geklagt, oft genug an positiver Kenntniß und folglich an tüch¬
tig sachlicher Beurtheilung fehlt, sonst würden in der neuesten Musikliteratnr
sich nicht eine Masse Fragen herumtreiben, zu deren Erledigung es. bei aller¬
dings gründlichem Studium, in vielen Fällen nur einer zwanglos freien, un¬
mittelbar von der Sache selbst, nicht von selbstgefälligen Hypothesen aus¬
gehenden Fixirung bedürfte. Die unendliche Phrasenmacherei. welche in der
heutigen Musiklit'eratur sich breit wacht, und öfter ein Erzeugnis; persönlicher
Eitelkeit wie reeller Sachkenntniß ist. verwirrt den Gegenstand, auf den sie sich
wirft, statt ihm Klarheit zu verleihen. Unsere meisten Musikschriftsteller
können von Chrysander lernen, und ihm für sein Vorbild dankbar sein. —

Der vorliegende erste Land der Biographie umfaßt Handels Jugend und
Lehrjahre in Deutschland 1685—1706, und seine Wanderungen in Italien
und England bis zur Rückkehr vou Cannons 1720. Händel röurde 1685 zu
Giebichenstein bei Halle geboren; alle edeln Gemüthseigenschaften, welche sich
später in ihm entwickelten, findet Chrysander schon in seiner Mutter. Tochter
des Pastor Taufe zu Giebichenstein. vorgebildet: „den hellen Geist, die tiefe
Frömmigkeit und Bibelkenntniß, die starke Liebe zu den Eltern, die geringe
Neigung zur Heirath eben in der Blüte der Jugend, die Tüchtigkeit im ge¬
stimmten Tagewerk, den Ernst und die Sittsamteir. das alles hat sie mit ihm
gemein, hat'sie ihm eingebildet und eingeboren." Und in ähnlicher Weise
besaß der Vater „etwas von dem kühnen Drange nach außen und aufwärts,
von dem unbeugsamen Willen und der bis ins höchste Alter ungeschwächten
Kraft, von jenen Eigenschaften also, durch welche der Sohn die Bewunderung
der Zeitgenossen erregte, und seinem Genius nach langem Kampf zum Sieg
verhalf." Der damals in Deutschland allgemeine Widerwille gegen „die Pro¬
fession der Musik" wohnte auch Handels Vater inne, er wünschte, daß der
Sohn etwas Gutes lernen, und sich zu einem tüchtigen Juristen bilden möge,
deshalb durfte er die Kunst, für welche er von der Natur vorausbestimmt
war. im elterlichen Hause anfänglich nur heimlich und später zwar geduldet
ausüben, aber ihr keineswegs ganz angehören. Als er in Halle die lateinische
Schule bezog, wurde er jedoch dem Organisten Zachau (1663—1712) auch als
Schüler in der Tonkunst überwiesen. Wenngleich Zachau keine selbstständige
Bedeutung in der damaligen Kunstentwicklung gewann, und Händels Natur
von der seinigen grundverschieden war. so „trafen sie sich doch in der glück¬
lichen Zeit, wo Zachau noch frisch, und Händel seiner abweichenden Art sich
noch nicht bewußt war," und es ist anzunehmen, daß ervtüchtiger als Lehrer
Wie als Componist. Handels Studien eifrig und geschickt geleitet habe. Das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/111>, abgerufen am 03.07.2024.