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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Spruch ist er unermüdlich treu gewesen; die große Sicherheit, mit welcher
Chrysander seinen ganzen Stoff übersehn und geordnet hat. Beziehungen
aufdeckt, das Dunkel erhellt, mit dem frühere Händelbiographcn manche
Ereignisse überschattet haben, Thatsachen zu erklären und in Einklang zu
bringen weiß, können nur ein Resultat des ernstesten Fleißes in der Forschung
und der freudigsten Hingebung an die Sa'che sein. Allerdings ist auch nicht
zu übersehen, daß diese an sich ganz natürliche Hingabe an eine so macht¬
volle Künstler- und Menschengestalt wie Händel, dessen schöpferische Kraft und
innere Gcmüthsreinheit so untrennbar Eins waren, daß alle Lebensstürme sie
nicht wanken machen konnten -- leicht zur Unterschätzung der Zeitgenossen
und anderer Richtungen führt, daß das Bestreben, Person und Thätigkeit stets
im Einklang hinzustellen, leicht veranlaßt, Erklärungen zu finden, wo man sie
finden will, und so, wenngleich in der besten Absicht, die Treue der rein histo¬
rischen Darstellung etwas' zu trüben. Daß Chrysander, namentlich in seiner
Position Handels Bach gegenüber wol etwas zu weit geht, desgleichen die
Hamburger Zeitgenossen sehr dunkel färbt. um den Helden aus diesem Schatten-
complex desto reiner hervorstrahlen zu lassen; andrerseits auf Händel unmittel¬
bar wirkenden Künstlern, wie Stcsfani. eine zu hohe Stellung einräumt, ist mehr
vom Gesichtspunkt der künstlerischen Darstellung wie der historischen Strenge
zu rechtfertigen. Die Form der Biographie gewinnt allerdings dadurch außer¬
ordentlich um Klarheit, daß Händel überall seine Zeitgenossen mit einem
künstlerisch und ethisch so verklärten Licht, in das alle Strahlen der damaligen
Geistesbewegung in der Kluft zusammenfließen, so überglänzt, daß selbst Bach
ihm nur als Nebensonne beigeordnet erscheint. Die Klarheit und Bestimmt¬
heit, mit welcher der Verfasser alle früheren Erscheinungen auf Händel selbst hin¬
deutend und alles Gleichzeitige in ihm als in die Erfüllung aufgehend darstellt,
läßt den ganzen ungemein umfassenden Stoff wie ganz von selbst in einem
Punkt die Vereinigung finden, so daß auch ein mit der Sache wenig ver¬
trauter Leser von Handel selbst und zugleich von seiner Zeit ein in höchster
Vortrefflichkeit concentrirtcs, lebensvolles Bild bekommt. Dazu trägt die ein¬
fache, aber höchst kernhafte Darstellungsweise nicht wenig bei -- jedes Wort¬
pathos und jede an Stelle von Gedanken tretende Phrase ist dem Verfasser
von Natur aus > unmöglich, deshalb auch überall die logische Richtigkeit.
Kommt man in dem Werk auf einen Punkt, in dem die eigene Ansicht mit
der Chryscmders nicht übereinstimmen kann, so wird man doch nie auf etwas
stoßen, was sich in sich selbst widerspräche, oder nur so obenhin gesagt wäre.
Eine höchst gründliche und umfassende Kenntniß der musikalischen Satzkunst,
und sein immer wacher und scharfer Blick in die beurtheilten Partituren,
lassen ihn stets aus d<in Werken und Quellen selbst, aus denen er allein
seine Ansicht entwickelt, ost an sich unscheinbare Merkmale finden, woraus sich


Spruch ist er unermüdlich treu gewesen; die große Sicherheit, mit welcher
Chrysander seinen ganzen Stoff übersehn und geordnet hat. Beziehungen
aufdeckt, das Dunkel erhellt, mit dem frühere Händelbiographcn manche
Ereignisse überschattet haben, Thatsachen zu erklären und in Einklang zu
bringen weiß, können nur ein Resultat des ernstesten Fleißes in der Forschung
und der freudigsten Hingebung an die Sa'che sein. Allerdings ist auch nicht
zu übersehen, daß diese an sich ganz natürliche Hingabe an eine so macht¬
volle Künstler- und Menschengestalt wie Händel, dessen schöpferische Kraft und
innere Gcmüthsreinheit so untrennbar Eins waren, daß alle Lebensstürme sie
nicht wanken machen konnten — leicht zur Unterschätzung der Zeitgenossen
und anderer Richtungen führt, daß das Bestreben, Person und Thätigkeit stets
im Einklang hinzustellen, leicht veranlaßt, Erklärungen zu finden, wo man sie
finden will, und so, wenngleich in der besten Absicht, die Treue der rein histo¬
rischen Darstellung etwas' zu trüben. Daß Chrysander, namentlich in seiner
Position Handels Bach gegenüber wol etwas zu weit geht, desgleichen die
Hamburger Zeitgenossen sehr dunkel färbt. um den Helden aus diesem Schatten-
complex desto reiner hervorstrahlen zu lassen; andrerseits auf Händel unmittel¬
bar wirkenden Künstlern, wie Stcsfani. eine zu hohe Stellung einräumt, ist mehr
vom Gesichtspunkt der künstlerischen Darstellung wie der historischen Strenge
zu rechtfertigen. Die Form der Biographie gewinnt allerdings dadurch außer¬
ordentlich um Klarheit, daß Händel überall seine Zeitgenossen mit einem
künstlerisch und ethisch so verklärten Licht, in das alle Strahlen der damaligen
Geistesbewegung in der Kluft zusammenfließen, so überglänzt, daß selbst Bach
ihm nur als Nebensonne beigeordnet erscheint. Die Klarheit und Bestimmt¬
heit, mit welcher der Verfasser alle früheren Erscheinungen auf Händel selbst hin¬
deutend und alles Gleichzeitige in ihm als in die Erfüllung aufgehend darstellt,
läßt den ganzen ungemein umfassenden Stoff wie ganz von selbst in einem
Punkt die Vereinigung finden, so daß auch ein mit der Sache wenig ver¬
trauter Leser von Handel selbst und zugleich von seiner Zeit ein in höchster
Vortrefflichkeit concentrirtcs, lebensvolles Bild bekommt. Dazu trägt die ein¬
fache, aber höchst kernhafte Darstellungsweise nicht wenig bei — jedes Wort¬
pathos und jede an Stelle von Gedanken tretende Phrase ist dem Verfasser
von Natur aus > unmöglich, deshalb auch überall die logische Richtigkeit.
Kommt man in dem Werk auf einen Punkt, in dem die eigene Ansicht mit
der Chryscmders nicht übereinstimmen kann, so wird man doch nie auf etwas
stoßen, was sich in sich selbst widerspräche, oder nur so obenhin gesagt wäre.
Eine höchst gründliche und umfassende Kenntniß der musikalischen Satzkunst,
und sein immer wacher und scharfer Blick in die beurtheilten Partituren,
lassen ihn stets aus d<in Werken und Quellen selbst, aus denen er allein
seine Ansicht entwickelt, ost an sich unscheinbare Merkmale finden, woraus sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/110>, abgerufen am 02.07.2024.