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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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kam nach mancherlei Aufenthalt 7. März 1774 in Genf an. Die, persönlichen
Verhältnisse, in welche er eintrat, gestalteten sich äußerst günstig. In der
Familie Tronchin wurde er liebevoll behandelt. Den bedeutendsten Eindruck
machte aus ihn der ältere Bruder seines Principals, ein 70jähriger Greis, in
dem er einen zweiten Perikles zu sehn glaubte. Die Familie gehörte zu den
angesehensten des Cantons, und der junge Gelehrte wurde in die Blüte der
Gesellschaft eingeführt, auch bei Voltaire, den er zuerst im Oct. 1774,
dann öfters besuchte. Es war damals in Genf auch literarisch ein äußerst
reges Leben. Eine große Zahl Engländer und Franzosen hielt sich dort auf,
die ihm die Aussicht in die große Politik Europas eröffneten; am fruchtbarsten
wurde für ihn die Verbindung mit Bonnet, dem geistvollen Psychologen,
und mit dem jungen Amerikaner Kinloch. Trotz vielfacher gesellschaftlicher
Zerstreuungen fand er Gelegenheit, seine Studien fortzusetzen, namentlich seit
die Familie Ende Mai auf das Landgut Bessinge gezogen war. Doch wurden
die Verhältnisse zu seinen Schülern allmälig unbequem und er entschloß sich
im April 1775 mit der Beistimmung seines Principals, der ihm seine Freund¬
schaft erhielt, seine Stelle aufzugeben und mit seinem Freunde Kinloch das
Landgut Chambesis zu beziehen. Es folgt eine Reihe höchst genußreicher
Jahre, die aber an einem erheblichen Uebelstand litten: Müller lebte auf
Kosten seiner Freunde, und so zart diese das Verhältniß einzurichten verstan¬
den, es ist doch immer eines Mannes nicht würdig. Es traten denn auch
immer Augenblicke des Mißniuths ein/) wo er unruhig nach allen Seiten
um sich blickte, ob sich ihm nickt irgend eine Aussicht darböte. Von Cham¬
besis aus machte er theils mit Bonstetten, theils mit Kinloch zahlreiche Rei¬
sen, in denen er so ziemlich die ganze Schweiz durchstreifte, immer besorgt,
für sein großes Werk Localfarbe und einzelne Notizen zu gewinnen. Der
Ausbruch der amerikanischen Revolution rief seinen Freund im Juni 1776 nach
seinem Vaterland zurück, seitdem lebte Müller in Genthod bei Bonnet. bis
zum April 1777. Die Sommermonate brachte er mit Bonstetten bald am Jura,
bald in den Alpen zu, in unerforschten Landschaften und unbekannten Thä¬
lern höchst lehrreich für die Grundzüge des Schwcizervolts. Es wurden ihm
damals Anerbietungen zu einer Reise uach England gemacht, die er indessen
zurückwies. Endlich gegen den Herbst 1777 hin setzte er sich auf dem Land- ,
gut des ältern Tronchin fest und das Verhältniß wurde fast noch zärtlicher
als das zu Bonstetten. Dies waren seine äußerlichen Verhältnisse bis zum
12. Febr. 1 779. an welchem Tage sein Bater starb.

In dieser Periode entwickelt sich der leitende Gedanke seiner Politik, die



") Am bittersten spricht sich dies Gefühl der Abhängigkeit in den Briefen an Bonstetten,
Jan. und Nov. 1778, aus! auch wird man daraus am vollständigsten über die Unklarheit dieser
Verhältnisse unterrichtet.

kam nach mancherlei Aufenthalt 7. März 1774 in Genf an. Die, persönlichen
Verhältnisse, in welche er eintrat, gestalteten sich äußerst günstig. In der
Familie Tronchin wurde er liebevoll behandelt. Den bedeutendsten Eindruck
machte aus ihn der ältere Bruder seines Principals, ein 70jähriger Greis, in
dem er einen zweiten Perikles zu sehn glaubte. Die Familie gehörte zu den
angesehensten des Cantons, und der junge Gelehrte wurde in die Blüte der
Gesellschaft eingeführt, auch bei Voltaire, den er zuerst im Oct. 1774,
dann öfters besuchte. Es war damals in Genf auch literarisch ein äußerst
reges Leben. Eine große Zahl Engländer und Franzosen hielt sich dort auf,
die ihm die Aussicht in die große Politik Europas eröffneten; am fruchtbarsten
wurde für ihn die Verbindung mit Bonnet, dem geistvollen Psychologen,
und mit dem jungen Amerikaner Kinloch. Trotz vielfacher gesellschaftlicher
Zerstreuungen fand er Gelegenheit, seine Studien fortzusetzen, namentlich seit
die Familie Ende Mai auf das Landgut Bessinge gezogen war. Doch wurden
die Verhältnisse zu seinen Schülern allmälig unbequem und er entschloß sich
im April 1775 mit der Beistimmung seines Principals, der ihm seine Freund¬
schaft erhielt, seine Stelle aufzugeben und mit seinem Freunde Kinloch das
Landgut Chambesis zu beziehen. Es folgt eine Reihe höchst genußreicher
Jahre, die aber an einem erheblichen Uebelstand litten: Müller lebte auf
Kosten seiner Freunde, und so zart diese das Verhältniß einzurichten verstan¬
den, es ist doch immer eines Mannes nicht würdig. Es traten denn auch
immer Augenblicke des Mißniuths ein/) wo er unruhig nach allen Seiten
um sich blickte, ob sich ihm nickt irgend eine Aussicht darböte. Von Cham¬
besis aus machte er theils mit Bonstetten, theils mit Kinloch zahlreiche Rei¬
sen, in denen er so ziemlich die ganze Schweiz durchstreifte, immer besorgt,
für sein großes Werk Localfarbe und einzelne Notizen zu gewinnen. Der
Ausbruch der amerikanischen Revolution rief seinen Freund im Juni 1776 nach
seinem Vaterland zurück, seitdem lebte Müller in Genthod bei Bonnet. bis
zum April 1777. Die Sommermonate brachte er mit Bonstetten bald am Jura,
bald in den Alpen zu, in unerforschten Landschaften und unbekannten Thä¬
lern höchst lehrreich für die Grundzüge des Schwcizervolts. Es wurden ihm
damals Anerbietungen zu einer Reise uach England gemacht, die er indessen
zurückwies. Endlich gegen den Herbst 1777 hin setzte er sich auf dem Land- ,
gut des ältern Tronchin fest und das Verhältniß wurde fast noch zärtlicher
als das zu Bonstetten. Dies waren seine äußerlichen Verhältnisse bis zum
12. Febr. 1 779. an welchem Tage sein Bater starb.

In dieser Periode entwickelt sich der leitende Gedanke seiner Politik, die



") Am bittersten spricht sich dies Gefühl der Abhängigkeit in den Briefen an Bonstetten,
Jan. und Nov. 1778, aus! auch wird man daraus am vollständigsten über die Unklarheit dieser
Verhältnisse unterrichtet.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/66>, abgerufen am 21.12.2024.