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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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nimmt er an, nur die Bücher der Bibel wären Gotteswort, die zunächst auf
die moralische Besserung des Menschen abzielen, Also z. B, die historischen
Bücher des A, T, sind nur an wenigen Stellen göttlich und heilig. Im
neuen Testament ist Matthäus ungöttlich, Marcus zweideutig, die Briefe Pauli
sind mit Zusätzen verdorben, Petrus und Judas ungewiß, die Apokalypse ein
Werk des Betruges. Also lasse man künftig jeden selbst nach eignem Ge¬
schmack entscheiden, was göttlich oder ungöttlich, was Gottes Wort und mersch,
liebe Zusätze sind!" -- Diese Ideen weichen so weit von dem ab, was er
sonst in jener Zeit ausspricht, daß Gentz Heuchelei darin findet. Aber ab¬
gesehen davon, daß Müllers jedem Eindruck leicht zugängliches Gemüth heute
durch den heftigen Schlözer, morgen durch den sanften Miller bestimmt wurde,
bildet diese Abneigung gegen die zersetzende Kritik, nicht aus theologischen,
sondern aus ästhetischen Gründen, den Grundzug seines Wesens. In allen
Lebensperioden ist der Glaube an die Thatsachen mächtig über ihn; was
diese untergräbt, macht ihm Pein. -- Damals (Apr. 1771) hielt er noch die
Kirchengeschichte für seine Aufgabe, obgleich er die vielen Irrthümer und Un¬
wahrheiten in den Berichten über die Heiligen und Märtyrer bereits durch¬
schaut hatte. Erst Miller') wies ihn an die Schweizergeschichte; sofort ergriff
er diese Idee mit allem Feuer, dessen er fähig war, und seine vornehmste Lebens¬
aufgabe war seitdem sixirt.

Er hatte Göttingen so liebgewonnen, und die religiösen Zustände seines
Cantons^) waren ihm so zuwider, daß es ihm eine große Aufopferung kostete,
nach Schaffhausen zurückzukehren; doch gab er den Vorstellungen seiner Eltern
nach. Am 13. Oct. 1771 langte er wieder in seiner Baterstadt an. wurde
nach Ablieferung einer Exegese 31. Juni 1772 zum Examen vor dem Kirchen¬
rath zugelassen und erhielt nach der Prodepredigt die Erlaubniß zu den geist¬
lichen Functionen. Am 9. Juni 1772 ertheilte die Regierung dem zwanzig¬
jährigen Jüngling das Professorat der griechischen Sprache. Gleichzeitig er¬
schien sein erstes historisches Werk: Le,11um Liindrilmm, welches er auf die
Anregung Schlözers unternommen und zu seiner Zufriedenheit durchgeführt
hatte, im Druck. Es war das Probestück, mit dem er thatsächlich von der
Theologie zur Geschichte überging. Er predigte zuweilen, aber die gleich darauf




Ihm verdankte er auch, Juni 1771, die Bekanntschaft mit Gleim, ans der bald eine
zärtliche Freundschaft wurde.
") Nach dem Bericht seines Bruders (Bd. 4. S, 69) auch der Einfluß eines Lehrers,
der ihm die Schweiz als ein Land der Dienstbarkeit und des Despotismus darstellte, wo
unter den Gelehrten die größte Pedanterie herrsche u. s, w, -- Offenbar meint er Schlözer,
aber er thut ihm Unrecht, wenn dieser sich in seiner Weise auch ost stark ausgedrückt haben
mag. 24. Nov. 1771 schreibt Schlözer an M.: "Einem Samojeden würde ich gram, wenn
er mir sein schnccigtes Vaterland verachtete! und Ihnen, einem glücklichen Schweizer, sollte ich
es verzeihen, daß Sie in zwei Briefen auf Ihr Vaterland lästern?"

nimmt er an, nur die Bücher der Bibel wären Gotteswort, die zunächst auf
die moralische Besserung des Menschen abzielen, Also z. B, die historischen
Bücher des A, T, sind nur an wenigen Stellen göttlich und heilig. Im
neuen Testament ist Matthäus ungöttlich, Marcus zweideutig, die Briefe Pauli
sind mit Zusätzen verdorben, Petrus und Judas ungewiß, die Apokalypse ein
Werk des Betruges. Also lasse man künftig jeden selbst nach eignem Ge¬
schmack entscheiden, was göttlich oder ungöttlich, was Gottes Wort und mersch,
liebe Zusätze sind!" — Diese Ideen weichen so weit von dem ab, was er
sonst in jener Zeit ausspricht, daß Gentz Heuchelei darin findet. Aber ab¬
gesehen davon, daß Müllers jedem Eindruck leicht zugängliches Gemüth heute
durch den heftigen Schlözer, morgen durch den sanften Miller bestimmt wurde,
bildet diese Abneigung gegen die zersetzende Kritik, nicht aus theologischen,
sondern aus ästhetischen Gründen, den Grundzug seines Wesens. In allen
Lebensperioden ist der Glaube an die Thatsachen mächtig über ihn; was
diese untergräbt, macht ihm Pein. — Damals (Apr. 1771) hielt er noch die
Kirchengeschichte für seine Aufgabe, obgleich er die vielen Irrthümer und Un¬
wahrheiten in den Berichten über die Heiligen und Märtyrer bereits durch¬
schaut hatte. Erst Miller') wies ihn an die Schweizergeschichte; sofort ergriff
er diese Idee mit allem Feuer, dessen er fähig war, und seine vornehmste Lebens¬
aufgabe war seitdem sixirt.

Er hatte Göttingen so liebgewonnen, und die religiösen Zustände seines
Cantons^) waren ihm so zuwider, daß es ihm eine große Aufopferung kostete,
nach Schaffhausen zurückzukehren; doch gab er den Vorstellungen seiner Eltern
nach. Am 13. Oct. 1771 langte er wieder in seiner Baterstadt an. wurde
nach Ablieferung einer Exegese 31. Juni 1772 zum Examen vor dem Kirchen¬
rath zugelassen und erhielt nach der Prodepredigt die Erlaubniß zu den geist¬
lichen Functionen. Am 9. Juni 1772 ertheilte die Regierung dem zwanzig¬
jährigen Jüngling das Professorat der griechischen Sprache. Gleichzeitig er¬
schien sein erstes historisches Werk: Le,11um Liindrilmm, welches er auf die
Anregung Schlözers unternommen und zu seiner Zufriedenheit durchgeführt
hatte, im Druck. Es war das Probestück, mit dem er thatsächlich von der
Theologie zur Geschichte überging. Er predigte zuweilen, aber die gleich darauf




Ihm verdankte er auch, Juni 1771, die Bekanntschaft mit Gleim, ans der bald eine
zärtliche Freundschaft wurde.
") Nach dem Bericht seines Bruders (Bd. 4. S, 69) auch der Einfluß eines Lehrers,
der ihm die Schweiz als ein Land der Dienstbarkeit und des Despotismus darstellte, wo
unter den Gelehrten die größte Pedanterie herrsche u. s, w, — Offenbar meint er Schlözer,
aber er thut ihm Unrecht, wenn dieser sich in seiner Weise auch ost stark ausgedrückt haben
mag. 24. Nov. 1771 schreibt Schlözer an M.: „Einem Samojeden würde ich gram, wenn
er mir sein schnccigtes Vaterland verachtete! und Ihnen, einem glücklichen Schweizer, sollte ich
es verzeihen, daß Sie in zwei Briefen auf Ihr Vaterland lästern?"
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/58>, abgerufen am 21.12.2024.