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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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von den Segenswünschen seiner Eltern begleitet, am 25, August 1709 nach
Göttingen ab. Hier eröffnete sich ihm eine neue Welt. In den Briefen nach
Hnuse herrscht eine unaufhörliche Begeisterung, er sieht in seinen Lehrern lauter
große Männer. Zuerst imponirt ihm Michaelis (1771--91) der kritische
Theolog, der theils durch seine Gelehrsamkeit, theils durch seine derben Späße
seinen bisherigen naiven Glnnbcn sehr erheblich erschütterte, zum großen Mi߬
vergnügen seines Vaters, den er aber bald zu beruhigen wußte. Wunderlicher¬
weise kam daneben seinen Eltern das Gerücht zu Ohren, ihr Sohn sei ein
Zinzendorfianer geworden, habe allem Studiren entsagt, lese gar keine andern
als ascetische Bücher und besuche die Versammlungen der Brüdergemeinde.
In der That fanden beide sehr entgegengesetzte Neigungen in seinem empfäng¬
lichen Gemüth gleichzeitig Raum. Kirchengeschichte hörte er bei Walch,
Philosophie bei Feder, Homiletik bei dem würdigen Moralisten Peter Miller,
an den er sich am engsten anschloß, und bei dem er seit August 1770 wohnte.
Schon zu Anfang desselben Jahres war er in die historische Gesellschaft unter
Gatterers Leitung eingetreten. Auch mit Heyne stand er in Verkehr, und
seine Neigung für die Geschichte gewann die Oberhand, als Schlözer*) mit
seinem energischen Naturell sich seiner bemächtigte. Aus dieser Periode schreibt
er am 28. Sept. an seine Eltern, er habe seine bisherige Hypochondrie über¬
wunden: "ohne vieles Geräusch werde ich die wohlthätige Religion Gottes
unerschrocken, nach Gewissen, ohne Absicht und Verstellung, ohne pedantische
Schulfuchserei und Kathederphilvsophie predigen. Philosophie der Grazien,
des Gefühls, der Empfindung steht dem Lehrer der Religion besser, als alle
36 Quartanten, die Christian Wolf geschmiert hat, als der ganze save und
Lombard, als die ganze weilandmodische mathematische Methode." Doch trat
er noch December 1770 mit einer rechtgläubigen Disputation auf: Mlril vssö
livtzö VKristo oeelosiii." metusnäum, und nannte in einem Brief an seinen
Vater 1V. Juli 1771 Semlers "freie Untersuchung des Canons" einen
der größten Unglücksfälle. welche die christliche Religion und Theologie seit
dritthalb hundert Jahren betroffen, ein Zeichen, daß die Zeit des Abfalls und
die Stunde der Prüfung nahe sei. "Der große und unsterbliche, aber etwas
sonderbare und neuerungssüchtige Mann hat zuerst die Meinungen der Alten
von den dämonischen Leuten im N. T. angegriffen, die sich doch auf die
klarsten Schriftsteller gründen und die dämonischen für kranke, fieberhafte und
rasende Leute, die Erzählungen der Evangelisten aber für nichts besser, als
Livius seine ^ Wundergeschichten ausgegeben. Vergeblich habe ihm Ernesti
widersprochen, seine Partei werde immer starker. In jener neuen Schrift



")Geb, I7of. inGottingcn seit 1764, starb 1809. Von diesem Vater der deutschen Publi-
cistik, an Talent und Charakter Müllers vollständiges Gegenbild. so wie von seinem Kollegen
Pütter gibt Mohl im 2, Bd, seiner Encyklopädie ein elastisches Bild,
Grenzboten II. 1L58. 7

von den Segenswünschen seiner Eltern begleitet, am 25, August 1709 nach
Göttingen ab. Hier eröffnete sich ihm eine neue Welt. In den Briefen nach
Hnuse herrscht eine unaufhörliche Begeisterung, er sieht in seinen Lehrern lauter
große Männer. Zuerst imponirt ihm Michaelis (1771—91) der kritische
Theolog, der theils durch seine Gelehrsamkeit, theils durch seine derben Späße
seinen bisherigen naiven Glnnbcn sehr erheblich erschütterte, zum großen Mi߬
vergnügen seines Vaters, den er aber bald zu beruhigen wußte. Wunderlicher¬
weise kam daneben seinen Eltern das Gerücht zu Ohren, ihr Sohn sei ein
Zinzendorfianer geworden, habe allem Studiren entsagt, lese gar keine andern
als ascetische Bücher und besuche die Versammlungen der Brüdergemeinde.
In der That fanden beide sehr entgegengesetzte Neigungen in seinem empfäng¬
lichen Gemüth gleichzeitig Raum. Kirchengeschichte hörte er bei Walch,
Philosophie bei Feder, Homiletik bei dem würdigen Moralisten Peter Miller,
an den er sich am engsten anschloß, und bei dem er seit August 1770 wohnte.
Schon zu Anfang desselben Jahres war er in die historische Gesellschaft unter
Gatterers Leitung eingetreten. Auch mit Heyne stand er in Verkehr, und
seine Neigung für die Geschichte gewann die Oberhand, als Schlözer*) mit
seinem energischen Naturell sich seiner bemächtigte. Aus dieser Periode schreibt
er am 28. Sept. an seine Eltern, er habe seine bisherige Hypochondrie über¬
wunden: „ohne vieles Geräusch werde ich die wohlthätige Religion Gottes
unerschrocken, nach Gewissen, ohne Absicht und Verstellung, ohne pedantische
Schulfuchserei und Kathederphilvsophie predigen. Philosophie der Grazien,
des Gefühls, der Empfindung steht dem Lehrer der Religion besser, als alle
36 Quartanten, die Christian Wolf geschmiert hat, als der ganze save und
Lombard, als die ganze weilandmodische mathematische Methode." Doch trat
er noch December 1770 mit einer rechtgläubigen Disputation auf: Mlril vssö
livtzö VKristo oeelosiii.« metusnäum, und nannte in einem Brief an seinen
Vater 1V. Juli 1771 Semlers „freie Untersuchung des Canons" einen
der größten Unglücksfälle. welche die christliche Religion und Theologie seit
dritthalb hundert Jahren betroffen, ein Zeichen, daß die Zeit des Abfalls und
die Stunde der Prüfung nahe sei. „Der große und unsterbliche, aber etwas
sonderbare und neuerungssüchtige Mann hat zuerst die Meinungen der Alten
von den dämonischen Leuten im N. T. angegriffen, die sich doch auf die
klarsten Schriftsteller gründen und die dämonischen für kranke, fieberhafte und
rasende Leute, die Erzählungen der Evangelisten aber für nichts besser, als
Livius seine ^ Wundergeschichten ausgegeben. Vergeblich habe ihm Ernesti
widersprochen, seine Partei werde immer starker. In jener neuen Schrift



»)Geb, I7of. inGottingcn seit 1764, starb 1809. Von diesem Vater der deutschen Publi-
cistik, an Talent und Charakter Müllers vollständiges Gegenbild. so wie von seinem Kollegen
Pütter gibt Mohl im 2, Bd, seiner Encyklopädie ein elastisches Bild,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/57>, abgerufen am 21.12.2024.