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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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trifft. -- Das Colont der folgenden Erzählung ist vortrefflich. Man fühlt
sich in die orientalische Natur versetzt und versteht die Einwirkungen derselben
aus ein empfängliches, der Inspiration fähiges Gemüth. Weniger glücklich ist
Müller, wo es gilt die Seele großer Männer zu analysiren. Er behandelt
Moses ganz wie Schiller, und sein Werk wie einen künstlich angelegten Plan.
Fast naiv klingt folgendes Lob. In zwei Dingen bewies er eine außerordent¬
liche Geistesgröße: daß er die Hauptsache von weniger wesentlichen Dingen,
die so oder anders sein können, unabhängig machte, und daß er nicht auf die
Ewigkeit seiner gottesdienstlichen Anstalten zählte, sondern seinem Volk voraus¬
sagte, es werde wol einst ein eben solcher Prophet kommen, wie er selbst;
den soll Israel allerdings hören. --- Uebrigens ist über die weitern biblischen
Bücher und über die Einwirkung der Verbannung auf das Volk viel sinniges
gesagt. Natürlich muß auch hier die philosophische Ausschmückung das ur¬
sprünglich reine System verunstalten, allein die Summe der hebräischen Lite¬
ratur, wie sie in der Sammlung enthalten ist, welche man das alte Testament
nennet, bleibt eine mannigfaltig lehrreiche und höchst wichtige Darstellung,
wie der Glaube der frühsten Welt (von einem einigen Gott, von dem Ver¬
hältnisse, worin wir zu ihm stehn, und von einer unsichtbaren Welt) unter
den Juden bald so, bald anders erhalten worden, bis er bei neuen Revolutionen
unter allen Völkern erneuert und befestigt wurde. -- Je geneigter die Zeiten schie¬
nen, manches lustig. vieles gleichgiltig zu finden, und je mehr die von Moses
vorhergeschenc Epoche sich näherte, wo ein anderer Prophet, wie er, eine
neue Form einführen oder den Kern des Glaubens ohne fernere Hülle zu all¬
gemeinem Genuß bereiten werde, desto ängstlicher suchten die Pharisäer dem Zeit¬
alter entgegenzuarbeiten. Alles erwarteten sie von Ueberspannung des nicht mehr
Haltbaren; durch verhundertfachtes Joch vermeinten sie den Geist zu beugen,
daß er sich gar nicht erheben könne. -- Bei dieser Stimmung der Gemüther,
bei diesem Wanken aller alten Religionen wurde Jesus geboren. Seine Lehre
war keine andere, als die dem ältesten Menschengeschlecht vom Schöpfer ein-
gegrabene: daß Er sei, und alles dergestalt regiere, daß niemand, auch durch
den Tod nicht, der Vergeltung seiner Handlungen beraubt oder davon befreit
werde. Den wichtigen Punkt fügte Jesus hinzu: daß jene, der Kindheit un¬
gebildeter Völker und der Nachahmung des Alterthums lange nachgesehene
Priestergebräuche, deren Unwerth schon David und Jesaias gefühlt, nun auf¬
zuhören, und auf keinem andern Wege, als dem der Humanität, welche er
lehre und übe, das Wohlgefallen Gottes zu suchen sei. Er führte weder eine
Priesterschaft, noch sinnliche Religionshandlungen ein. Er verband sein eignes
Angedenken mit dem Genuß der unentbehrlichsten Lebensmittel. Nur die aller-
ältesten Wahrheiten, deren Idee, da unsere Organisation ihre Ergründung
nicht so. wie der sinnlichen Dinge gestattet, allerdings Gott seinem Geschöpf


trifft. — Das Colont der folgenden Erzählung ist vortrefflich. Man fühlt
sich in die orientalische Natur versetzt und versteht die Einwirkungen derselben
aus ein empfängliches, der Inspiration fähiges Gemüth. Weniger glücklich ist
Müller, wo es gilt die Seele großer Männer zu analysiren. Er behandelt
Moses ganz wie Schiller, und sein Werk wie einen künstlich angelegten Plan.
Fast naiv klingt folgendes Lob. In zwei Dingen bewies er eine außerordent¬
liche Geistesgröße: daß er die Hauptsache von weniger wesentlichen Dingen,
die so oder anders sein können, unabhängig machte, und daß er nicht auf die
Ewigkeit seiner gottesdienstlichen Anstalten zählte, sondern seinem Volk voraus¬
sagte, es werde wol einst ein eben solcher Prophet kommen, wie er selbst;
den soll Israel allerdings hören. —- Uebrigens ist über die weitern biblischen
Bücher und über die Einwirkung der Verbannung auf das Volk viel sinniges
gesagt. Natürlich muß auch hier die philosophische Ausschmückung das ur¬
sprünglich reine System verunstalten, allein die Summe der hebräischen Lite¬
ratur, wie sie in der Sammlung enthalten ist, welche man das alte Testament
nennet, bleibt eine mannigfaltig lehrreiche und höchst wichtige Darstellung,
wie der Glaube der frühsten Welt (von einem einigen Gott, von dem Ver¬
hältnisse, worin wir zu ihm stehn, und von einer unsichtbaren Welt) unter
den Juden bald so, bald anders erhalten worden, bis er bei neuen Revolutionen
unter allen Völkern erneuert und befestigt wurde. — Je geneigter die Zeiten schie¬
nen, manches lustig. vieles gleichgiltig zu finden, und je mehr die von Moses
vorhergeschenc Epoche sich näherte, wo ein anderer Prophet, wie er, eine
neue Form einführen oder den Kern des Glaubens ohne fernere Hülle zu all¬
gemeinem Genuß bereiten werde, desto ängstlicher suchten die Pharisäer dem Zeit¬
alter entgegenzuarbeiten. Alles erwarteten sie von Ueberspannung des nicht mehr
Haltbaren; durch verhundertfachtes Joch vermeinten sie den Geist zu beugen,
daß er sich gar nicht erheben könne. — Bei dieser Stimmung der Gemüther,
bei diesem Wanken aller alten Religionen wurde Jesus geboren. Seine Lehre
war keine andere, als die dem ältesten Menschengeschlecht vom Schöpfer ein-
gegrabene: daß Er sei, und alles dergestalt regiere, daß niemand, auch durch
den Tod nicht, der Vergeltung seiner Handlungen beraubt oder davon befreit
werde. Den wichtigen Punkt fügte Jesus hinzu: daß jene, der Kindheit un¬
gebildeter Völker und der Nachahmung des Alterthums lange nachgesehene
Priestergebräuche, deren Unwerth schon David und Jesaias gefühlt, nun auf¬
zuhören, und auf keinem andern Wege, als dem der Humanität, welche er
lehre und übe, das Wohlgefallen Gottes zu suchen sei. Er führte weder eine
Priesterschaft, noch sinnliche Religionshandlungen ein. Er verband sein eignes
Angedenken mit dem Genuß der unentbehrlichsten Lebensmittel. Nur die aller-
ältesten Wahrheiten, deren Idee, da unsere Organisation ihre Ergründung
nicht so. wie der sinnlichen Dinge gestattet, allerdings Gott seinem Geschöpf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/276>, abgerufen am 21.12.2024.