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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Thorheit in dem Volksglauben, nur Fabeln im Hesiodus. -- Die Naturkenner
traten ihnen bei. So mangelhaft ihre Wissenschaft war, so schnell schlössen
sie aus wahrer oder vermeinter Entdeckung der Ursachen einiger für über¬
natürlich gehaltenen Dinge, daß wol alles nur Wirkung eines Zusammenflusses
von zufälligen Ursachen sei. Sie stiegen nicht höher; nicht bis die Kette von
tausend Ursachen an die Handlung der ersten am Throne des Zeus sich an¬
schließt. Einige Formeln gaben dem Witz Triumph über das Gefühl, selbst
über gesunde Vernunft. Stolz behaupteten sie, daß alles Bekannte oder Ver¬
borgene Ursachen, das System aller Ursachen aber allein keine habe; sie gefielen
sich in der um den Menschen und um die Welt verbreiteten Finsterniß, mehr
als in Erfindung neuer tugendreichen Aussichten. -- Das Greuelleben in der
römischen Kaiserzeit erfüllte rechtschaffene Männer mit entschuldigungswürdigcn
Zweifeln und unwilliger Verachtung. Die größten Geister generalisirten den
Glauben: Das Weltall ist dem Plinius Gott, Gott alles, von Ewigkeit her,
in allem, über alles; und vergeblich ihn zu erforschen; er erfüllt alles, alle
Sinne, die Seele, den Geist. So dachten alle, die lieber sich den Zeiten
fügen, als wider sie kämpfen wollten. So wurden die menschlichen Dinge
den Stoikern gleichgiltig, weil sie nichts fürchteten und nichts leidenschaftlich
wünschten; den Epikureern, weil sie sie gering schätzten, die Lebensmühe mit
Mitleiden sahen und möglichst wenig von derselben übernahmen. So litt auf
beiden Seiten die Kraft, und das gemeine Wohl wurde von beiden ohne ge¬
hörigen Eifer betrieben. Das Volk, von den alten Göttern abgewandt, für
die hohen Tugenden der Stoa zu natürlich, nicht fein genug für Epikur, war
trostlos, und sah sich nach fremden Göttern um. Die Aegypter brachten den
Serapis; durch das ganze Reich verbreiteten sich Priester der Isis. Das
Riesenmäßige, das Wundervolle ihrer alten Geheimnisse, ihres Landes, ihres
Geschmacks, setzte den vornehmen und gemeinen Pöbel in Erstaunen; man
glaubte ihnen; es war angenommen, daß man nicht fordern dürfe sie zu be¬
greifen. In den irreligiösesten Hauptstädten ist der Wunderglaube am größten,
Die sittenlosen Römer waren die eifrigsten Arbeiter in geheimen Künsten; sie
wußten am besten, welche Leere die Sinnenlust nach vorübergegangenen Rausch
der Seele läßt; sie wollten, um sie auszufüllen, Genüsse einer andern Welt.
Bei dieser Stimmung der Gemüther, da die Welt ohne Götter war, trug sich
zu, daß einige gemeine, unaufgeklärte, nicht eben heldenmüthige Männer von
dein verachtetsten Volk im römischen Reich eine Religion gründeten, Welcher
alle vorigen Ideen, Vorurtheile und Gesetze weichen mußten.

Ganz wie der spätere Hegel und logisch vollkommen richtig führt Müller
erst hier die religiöse Entwicklung der Juden ein. Man sieht überhaupt aus
dieser Auseinandersetzung, daß auch ohne Metaphysik eine glückliche Divination
und eine allseitige Einsicht den wahren Zusammenhang der geistigen Bewegung


34*

Thorheit in dem Volksglauben, nur Fabeln im Hesiodus. — Die Naturkenner
traten ihnen bei. So mangelhaft ihre Wissenschaft war, so schnell schlössen
sie aus wahrer oder vermeinter Entdeckung der Ursachen einiger für über¬
natürlich gehaltenen Dinge, daß wol alles nur Wirkung eines Zusammenflusses
von zufälligen Ursachen sei. Sie stiegen nicht höher; nicht bis die Kette von
tausend Ursachen an die Handlung der ersten am Throne des Zeus sich an¬
schließt. Einige Formeln gaben dem Witz Triumph über das Gefühl, selbst
über gesunde Vernunft. Stolz behaupteten sie, daß alles Bekannte oder Ver¬
borgene Ursachen, das System aller Ursachen aber allein keine habe; sie gefielen
sich in der um den Menschen und um die Welt verbreiteten Finsterniß, mehr
als in Erfindung neuer tugendreichen Aussichten. — Das Greuelleben in der
römischen Kaiserzeit erfüllte rechtschaffene Männer mit entschuldigungswürdigcn
Zweifeln und unwilliger Verachtung. Die größten Geister generalisirten den
Glauben: Das Weltall ist dem Plinius Gott, Gott alles, von Ewigkeit her,
in allem, über alles; und vergeblich ihn zu erforschen; er erfüllt alles, alle
Sinne, die Seele, den Geist. So dachten alle, die lieber sich den Zeiten
fügen, als wider sie kämpfen wollten. So wurden die menschlichen Dinge
den Stoikern gleichgiltig, weil sie nichts fürchteten und nichts leidenschaftlich
wünschten; den Epikureern, weil sie sie gering schätzten, die Lebensmühe mit
Mitleiden sahen und möglichst wenig von derselben übernahmen. So litt auf
beiden Seiten die Kraft, und das gemeine Wohl wurde von beiden ohne ge¬
hörigen Eifer betrieben. Das Volk, von den alten Göttern abgewandt, für
die hohen Tugenden der Stoa zu natürlich, nicht fein genug für Epikur, war
trostlos, und sah sich nach fremden Göttern um. Die Aegypter brachten den
Serapis; durch das ganze Reich verbreiteten sich Priester der Isis. Das
Riesenmäßige, das Wundervolle ihrer alten Geheimnisse, ihres Landes, ihres
Geschmacks, setzte den vornehmen und gemeinen Pöbel in Erstaunen; man
glaubte ihnen; es war angenommen, daß man nicht fordern dürfe sie zu be¬
greifen. In den irreligiösesten Hauptstädten ist der Wunderglaube am größten,
Die sittenlosen Römer waren die eifrigsten Arbeiter in geheimen Künsten; sie
wußten am besten, welche Leere die Sinnenlust nach vorübergegangenen Rausch
der Seele läßt; sie wollten, um sie auszufüllen, Genüsse einer andern Welt.
Bei dieser Stimmung der Gemüther, da die Welt ohne Götter war, trug sich
zu, daß einige gemeine, unaufgeklärte, nicht eben heldenmüthige Männer von
dein verachtetsten Volk im römischen Reich eine Religion gründeten, Welcher
alle vorigen Ideen, Vorurtheile und Gesetze weichen mußten.

Ganz wie der spätere Hegel und logisch vollkommen richtig führt Müller
erst hier die religiöse Entwicklung der Juden ein. Man sieht überhaupt aus
dieser Auseinandersetzung, daß auch ohne Metaphysik eine glückliche Divination
und eine allseitige Einsicht den wahren Zusammenhang der geistigen Bewegung


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[0275] Thorheit in dem Volksglauben, nur Fabeln im Hesiodus. — Die Naturkenner traten ihnen bei. So mangelhaft ihre Wissenschaft war, so schnell schlössen sie aus wahrer oder vermeinter Entdeckung der Ursachen einiger für über¬ natürlich gehaltenen Dinge, daß wol alles nur Wirkung eines Zusammenflusses von zufälligen Ursachen sei. Sie stiegen nicht höher; nicht bis die Kette von tausend Ursachen an die Handlung der ersten am Throne des Zeus sich an¬ schließt. Einige Formeln gaben dem Witz Triumph über das Gefühl, selbst über gesunde Vernunft. Stolz behaupteten sie, daß alles Bekannte oder Ver¬ borgene Ursachen, das System aller Ursachen aber allein keine habe; sie gefielen sich in der um den Menschen und um die Welt verbreiteten Finsterniß, mehr als in Erfindung neuer tugendreichen Aussichten. — Das Greuelleben in der römischen Kaiserzeit erfüllte rechtschaffene Männer mit entschuldigungswürdigcn Zweifeln und unwilliger Verachtung. Die größten Geister generalisirten den Glauben: Das Weltall ist dem Plinius Gott, Gott alles, von Ewigkeit her, in allem, über alles; und vergeblich ihn zu erforschen; er erfüllt alles, alle Sinne, die Seele, den Geist. So dachten alle, die lieber sich den Zeiten fügen, als wider sie kämpfen wollten. So wurden die menschlichen Dinge den Stoikern gleichgiltig, weil sie nichts fürchteten und nichts leidenschaftlich wünschten; den Epikureern, weil sie sie gering schätzten, die Lebensmühe mit Mitleiden sahen und möglichst wenig von derselben übernahmen. So litt auf beiden Seiten die Kraft, und das gemeine Wohl wurde von beiden ohne ge¬ hörigen Eifer betrieben. Das Volk, von den alten Göttern abgewandt, für die hohen Tugenden der Stoa zu natürlich, nicht fein genug für Epikur, war trostlos, und sah sich nach fremden Göttern um. Die Aegypter brachten den Serapis; durch das ganze Reich verbreiteten sich Priester der Isis. Das Riesenmäßige, das Wundervolle ihrer alten Geheimnisse, ihres Landes, ihres Geschmacks, setzte den vornehmen und gemeinen Pöbel in Erstaunen; man glaubte ihnen; es war angenommen, daß man nicht fordern dürfe sie zu be¬ greifen. In den irreligiösesten Hauptstädten ist der Wunderglaube am größten, Die sittenlosen Römer waren die eifrigsten Arbeiter in geheimen Künsten; sie wußten am besten, welche Leere die Sinnenlust nach vorübergegangenen Rausch der Seele läßt; sie wollten, um sie auszufüllen, Genüsse einer andern Welt. Bei dieser Stimmung der Gemüther, da die Welt ohne Götter war, trug sich zu, daß einige gemeine, unaufgeklärte, nicht eben heldenmüthige Männer von dein verachtetsten Volk im römischen Reich eine Religion gründeten, Welcher alle vorigen Ideen, Vorurtheile und Gesetze weichen mußten. Ganz wie der spätere Hegel und logisch vollkommen richtig führt Müller erst hier die religiöse Entwicklung der Juden ein. Man sieht überhaupt aus dieser Auseinandersetzung, daß auch ohne Metaphysik eine glückliche Divination und eine allseitige Einsicht den wahren Zusammenhang der geistigen Bewegung 34*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/275>, abgerufen am 30.12.2024.