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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Lucian, der Spötter menschlicher Thorheit, wo inrmer, in Tempeln, in Schulen'
bei Gelehrten, bei Großen, er sie fand. Keiner der Alten verstand, wie er,
in allem das Lächerliche, das Unschickliche aufzufinden und mit reizender Ein¬
falt so darzustellen, paß man eine Vertheidigung dawider nicht lesen möchte.
Hier wendet sich Müller zu dem Punkt, den er bis dahin ungeachtet gelassen,
zur Religion. "Der menschliche Geist, welcher die Entfernungen der Gestirne
mißt, welcher vermeinte Elemente auflöst, welcher die Kenntniß der ganzen
Vergangenheit umfaßt, die Meinungen und Schicksale von Millionen ent¬
scheidet und weit in die Zukunft wirkt, wo kömmt er her? wo geht er hin?
Man hat dem Himmel den Blitz entwendet, Erdreich über die Meere erobert,
Kometenbahnen berechnet, hohe Regionen der Lüfte durchdrungen; und wer
sind wir? woher? wohin unser Ziel? Hierüber verstummen unsere Sinne.
Formeln von Abstractionen sind besser oder unvollkommener gedacht, gesagt,
verglichen worden, und nichts scheint gewisser, als Ungewißheit." -- Zur Be¬
antwortung dieser Frage wendet sich der Geschichtschreiber an die heiligen
Ueberlieferungen der verschiedenen Völker. Man kann nicht sagen, daß er tief
eingeht. Selbst bei den Griechen findet er im Grund nur den Begriff der Viel¬
götterei zu erläutern. "Voll von der unwiderstehbaren Gewalt, übrigens ohne
Zuversicht, wandte sich der Sterbliche aus alle Seiten, und erfand, was Erhabenes
und Abgeschmacktes ersonnen werden mag. um die Aufmerksamkeit der Götter
auf seine Gebete zu lenken. -- In Zeiten dieser kindischen Verirrungen ent¬
wickelte sich eine im Ganzen unübertroffene, sehr selten erreichte Humanität; weil
große Seelen sich nicht sowol nach Vernunftschlüssen bilden, als aus der Anschauung,
aus dem theilnehmenden Gefühle entwickeln, welches durch viele Umstünde zur
selbigen Zeit größer war. Die Kraft der Charaktere nahm ab, als die Begriffe
geläuterter wurden. Der delphische Gott, welcher dem Themistokles und Lykurg
in schlechten Versen, aber nach ihrer Weisheit geantwortet, gab nach Alexander
prosaische Sprüche, und verstummte um die Epoche der völlig fallenden Frei¬
heit. In der That wurde er seltener gefragt; wie konnte er viel wissen? Als
die Geschäfte nicht mehr von Gemeinden und Obrigkeiten abhingen, wie ver¬
mochte Apollo das Geheimniß der Cabinete vvrzusehn? Auch würde Still¬
schweigen ihm auferlegt worden sein. Da wurde die alte Religion mehr und
mehr der Gegenstand philosophischer Zweifel und leichtsinnigen Spottes; bald
wurde sie unzureichend, mich dem gemeinen Mann Schrecken oder Trost mit
voriger Majestät zu ertheilen. In der That wurden durch Veränderungen
der Sprachen, Zeiten und Sitten die uralten Symbole verdunkelt, Bilder und
Sachen verwechselt. Die Philosophen waren vom Alterthum und Morgen¬
lande nicht hinlänglich unterrichtet, um die Natur der Mythologie zu beur¬
theilen. Die Unwissenheit ist absprechend; der verstandvolle Stofker, der leb¬
hafte, witzige Schüler Epiturs, der scharssinnige Akademiker erblickten nur


Lucian, der Spötter menschlicher Thorheit, wo inrmer, in Tempeln, in Schulen'
bei Gelehrten, bei Großen, er sie fand. Keiner der Alten verstand, wie er,
in allem das Lächerliche, das Unschickliche aufzufinden und mit reizender Ein¬
falt so darzustellen, paß man eine Vertheidigung dawider nicht lesen möchte.
Hier wendet sich Müller zu dem Punkt, den er bis dahin ungeachtet gelassen,
zur Religion. „Der menschliche Geist, welcher die Entfernungen der Gestirne
mißt, welcher vermeinte Elemente auflöst, welcher die Kenntniß der ganzen
Vergangenheit umfaßt, die Meinungen und Schicksale von Millionen ent¬
scheidet und weit in die Zukunft wirkt, wo kömmt er her? wo geht er hin?
Man hat dem Himmel den Blitz entwendet, Erdreich über die Meere erobert,
Kometenbahnen berechnet, hohe Regionen der Lüfte durchdrungen; und wer
sind wir? woher? wohin unser Ziel? Hierüber verstummen unsere Sinne.
Formeln von Abstractionen sind besser oder unvollkommener gedacht, gesagt,
verglichen worden, und nichts scheint gewisser, als Ungewißheit." — Zur Be¬
antwortung dieser Frage wendet sich der Geschichtschreiber an die heiligen
Ueberlieferungen der verschiedenen Völker. Man kann nicht sagen, daß er tief
eingeht. Selbst bei den Griechen findet er im Grund nur den Begriff der Viel¬
götterei zu erläutern. „Voll von der unwiderstehbaren Gewalt, übrigens ohne
Zuversicht, wandte sich der Sterbliche aus alle Seiten, und erfand, was Erhabenes
und Abgeschmacktes ersonnen werden mag. um die Aufmerksamkeit der Götter
auf seine Gebete zu lenken. — In Zeiten dieser kindischen Verirrungen ent¬
wickelte sich eine im Ganzen unübertroffene, sehr selten erreichte Humanität; weil
große Seelen sich nicht sowol nach Vernunftschlüssen bilden, als aus der Anschauung,
aus dem theilnehmenden Gefühle entwickeln, welches durch viele Umstünde zur
selbigen Zeit größer war. Die Kraft der Charaktere nahm ab, als die Begriffe
geläuterter wurden. Der delphische Gott, welcher dem Themistokles und Lykurg
in schlechten Versen, aber nach ihrer Weisheit geantwortet, gab nach Alexander
prosaische Sprüche, und verstummte um die Epoche der völlig fallenden Frei¬
heit. In der That wurde er seltener gefragt; wie konnte er viel wissen? Als
die Geschäfte nicht mehr von Gemeinden und Obrigkeiten abhingen, wie ver¬
mochte Apollo das Geheimniß der Cabinete vvrzusehn? Auch würde Still¬
schweigen ihm auferlegt worden sein. Da wurde die alte Religion mehr und
mehr der Gegenstand philosophischer Zweifel und leichtsinnigen Spottes; bald
wurde sie unzureichend, mich dem gemeinen Mann Schrecken oder Trost mit
voriger Majestät zu ertheilen. In der That wurden durch Veränderungen
der Sprachen, Zeiten und Sitten die uralten Symbole verdunkelt, Bilder und
Sachen verwechselt. Die Philosophen waren vom Alterthum und Morgen¬
lande nicht hinlänglich unterrichtet, um die Natur der Mythologie zu beur¬
theilen. Die Unwissenheit ist absprechend; der verstandvolle Stofker, der leb¬
hafte, witzige Schüler Epiturs, der scharssinnige Akademiker erblickten nur


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[0274] Lucian, der Spötter menschlicher Thorheit, wo inrmer, in Tempeln, in Schulen' bei Gelehrten, bei Großen, er sie fand. Keiner der Alten verstand, wie er, in allem das Lächerliche, das Unschickliche aufzufinden und mit reizender Ein¬ falt so darzustellen, paß man eine Vertheidigung dawider nicht lesen möchte. Hier wendet sich Müller zu dem Punkt, den er bis dahin ungeachtet gelassen, zur Religion. „Der menschliche Geist, welcher die Entfernungen der Gestirne mißt, welcher vermeinte Elemente auflöst, welcher die Kenntniß der ganzen Vergangenheit umfaßt, die Meinungen und Schicksale von Millionen ent¬ scheidet und weit in die Zukunft wirkt, wo kömmt er her? wo geht er hin? Man hat dem Himmel den Blitz entwendet, Erdreich über die Meere erobert, Kometenbahnen berechnet, hohe Regionen der Lüfte durchdrungen; und wer sind wir? woher? wohin unser Ziel? Hierüber verstummen unsere Sinne. Formeln von Abstractionen sind besser oder unvollkommener gedacht, gesagt, verglichen worden, und nichts scheint gewisser, als Ungewißheit." — Zur Be¬ antwortung dieser Frage wendet sich der Geschichtschreiber an die heiligen Ueberlieferungen der verschiedenen Völker. Man kann nicht sagen, daß er tief eingeht. Selbst bei den Griechen findet er im Grund nur den Begriff der Viel¬ götterei zu erläutern. „Voll von der unwiderstehbaren Gewalt, übrigens ohne Zuversicht, wandte sich der Sterbliche aus alle Seiten, und erfand, was Erhabenes und Abgeschmacktes ersonnen werden mag. um die Aufmerksamkeit der Götter auf seine Gebete zu lenken. — In Zeiten dieser kindischen Verirrungen ent¬ wickelte sich eine im Ganzen unübertroffene, sehr selten erreichte Humanität; weil große Seelen sich nicht sowol nach Vernunftschlüssen bilden, als aus der Anschauung, aus dem theilnehmenden Gefühle entwickeln, welches durch viele Umstünde zur selbigen Zeit größer war. Die Kraft der Charaktere nahm ab, als die Begriffe geläuterter wurden. Der delphische Gott, welcher dem Themistokles und Lykurg in schlechten Versen, aber nach ihrer Weisheit geantwortet, gab nach Alexander prosaische Sprüche, und verstummte um die Epoche der völlig fallenden Frei¬ heit. In der That wurde er seltener gefragt; wie konnte er viel wissen? Als die Geschäfte nicht mehr von Gemeinden und Obrigkeiten abhingen, wie ver¬ mochte Apollo das Geheimniß der Cabinete vvrzusehn? Auch würde Still¬ schweigen ihm auferlegt worden sein. Da wurde die alte Religion mehr und mehr der Gegenstand philosophischer Zweifel und leichtsinnigen Spottes; bald wurde sie unzureichend, mich dem gemeinen Mann Schrecken oder Trost mit voriger Majestät zu ertheilen. In der That wurden durch Veränderungen der Sprachen, Zeiten und Sitten die uralten Symbole verdunkelt, Bilder und Sachen verwechselt. Die Philosophen waren vom Alterthum und Morgen¬ lande nicht hinlänglich unterrichtet, um die Natur der Mythologie zu beur¬ theilen. Die Unwissenheit ist absprechend; der verstandvolle Stofker, der leb¬ hafte, witzige Schüler Epiturs, der scharssinnige Akademiker erblickten nur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/274>, abgerufen am 30.12.2024.