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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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griechischen Demokratien hatten keine planmäßige Organisirung, das Volk
keine Mariinen, wodurch es vermocht hätte, wieder empor zu kommen;
diese Nation war an Ideen zu reich, um systematisch zu handeln." --
In der Auffassung der röunschen Geschichte unterscheidet sich Müller sehr
vortheilhaft von Herder. Er sieht in dein mächtigen Kriegerstaat nicht blos
die eiserne Abstraction, nicht blos die Zertrümmerung aller natürlichen
Zustände, sondern die große sittliche Kraft, welche der Taktik einen
wirklichen Inhalt gab. Seine Führer sind Plutarch und Macchiavell. Aus
dem ersteren bringt er die Bilder und Anschauungen mit, Macchinvells Dis-
cnrsi geben ihm die leitenden Gedanken. Auf kritische Untersuchungen der
Verfassung läßt er sich gar nicht oder so oberflächlich ein, daß man diese
kurzen Bemerkungen gern entbehren würde. Das Interesse beginnt haupt¬
sächlich bei der Darstellung des Verfalls. So sagt er von Cato: "Nie war
ein dem Ideal der Tugend mehr ähnlicher Mann, der das Gute nur darum
wirkte, weil anders zu handeln nicht in seiner Seele war. So viele Mühe
seine Feinde sich gaben ihn herabzuwürdigen, dennoch blieb sein Name
gleichbedeutend mit der Rechtschaffenheit selbst. Einen Fehler hatte Eatv
(und niemand als er), daß er der herrschenden Verderbniß auf gar keine Weise
sich fügen und lieber etwas Gutes unterlassen, als aus eine nicht ganz gesetz¬
mäßige Art handeln wollte. Mit mehr Nachgiebigkeit wäre er seinem Vater¬
land nützlicher gewesen, aber ein Cato würde der Geschichte der Menschheit
fehlen."*) Ein sehr nahe liegender Vergleich drängt sich dein Leser auf, wenn
Müller von Cicero spricht. Wenn der Vater der Musen Latinas, von
dem Cäsar, einst sein Feind, so wahrhaft urtheilte, sein Lorbeer sei um so
herrlicher als der militärische, um so mehr es heißen will, die Grenzen des
menschlichen Geistes als die eines vergänglichen Reichs erweitert zu haben,
wenn Cicero nach der Befreiung Roms von Catilina in weiser Einsamkeit
mit Atticus den Wissenschaften gelebt hätte, so würde mancher schwache Zug
seiner schonen Seele nicht erschienen sein. Er fühlte nicht, daß er poli¬
tischen Einfluß ruht nöthig hatte, um in den Jahrhunderten zu glänzen;
und er schmeichelte sich vergeblich, daß Tugend und Geist ihm diesen Ein¬
fluß versichern könnten. Bei dem fürchterlichen Umsturz der weltbehcrrschendcn
Republik, unter Waffen, Aufruhr, Verbrechen fand M. Tullius sich einzeln



') Diese 'Auffassung ist viel reifer, als was Müller 1776 über Cato bemerkt- "Als
wenn die Abänderung der Grundsähe oder derselben Modifikation nicht die erste Tugend wäre!
Es ist zur Erhaltung der Staaten die Ahndung der Unbeugsamkeit nöthig/' Noch eine
geistvoll erzählte Anekdote aus der Zeit des Verfalls- "Scipio entfloh zu Schiff: da es er¬
reicht und "ach ihm gefragt wurde, sprach er: Scipio ist hier und es geht ihm wohl. Unter
diesen Worten tödtete er sich. Er war sonst kein großer Man", aber Römer hatten ein Ge¬
fühl, das sie am Ende über alles erhob."

griechischen Demokratien hatten keine planmäßige Organisirung, das Volk
keine Mariinen, wodurch es vermocht hätte, wieder empor zu kommen;
diese Nation war an Ideen zu reich, um systematisch zu handeln." —
In der Auffassung der röunschen Geschichte unterscheidet sich Müller sehr
vortheilhaft von Herder. Er sieht in dein mächtigen Kriegerstaat nicht blos
die eiserne Abstraction, nicht blos die Zertrümmerung aller natürlichen
Zustände, sondern die große sittliche Kraft, welche der Taktik einen
wirklichen Inhalt gab. Seine Führer sind Plutarch und Macchiavell. Aus
dem ersteren bringt er die Bilder und Anschauungen mit, Macchinvells Dis-
cnrsi geben ihm die leitenden Gedanken. Auf kritische Untersuchungen der
Verfassung läßt er sich gar nicht oder so oberflächlich ein, daß man diese
kurzen Bemerkungen gern entbehren würde. Das Interesse beginnt haupt¬
sächlich bei der Darstellung des Verfalls. So sagt er von Cato: „Nie war
ein dem Ideal der Tugend mehr ähnlicher Mann, der das Gute nur darum
wirkte, weil anders zu handeln nicht in seiner Seele war. So viele Mühe
seine Feinde sich gaben ihn herabzuwürdigen, dennoch blieb sein Name
gleichbedeutend mit der Rechtschaffenheit selbst. Einen Fehler hatte Eatv
(und niemand als er), daß er der herrschenden Verderbniß auf gar keine Weise
sich fügen und lieber etwas Gutes unterlassen, als aus eine nicht ganz gesetz¬
mäßige Art handeln wollte. Mit mehr Nachgiebigkeit wäre er seinem Vater¬
land nützlicher gewesen, aber ein Cato würde der Geschichte der Menschheit
fehlen."*) Ein sehr nahe liegender Vergleich drängt sich dein Leser auf, wenn
Müller von Cicero spricht. Wenn der Vater der Musen Latinas, von
dem Cäsar, einst sein Feind, so wahrhaft urtheilte, sein Lorbeer sei um so
herrlicher als der militärische, um so mehr es heißen will, die Grenzen des
menschlichen Geistes als die eines vergänglichen Reichs erweitert zu haben,
wenn Cicero nach der Befreiung Roms von Catilina in weiser Einsamkeit
mit Atticus den Wissenschaften gelebt hätte, so würde mancher schwache Zug
seiner schonen Seele nicht erschienen sein. Er fühlte nicht, daß er poli¬
tischen Einfluß ruht nöthig hatte, um in den Jahrhunderten zu glänzen;
und er schmeichelte sich vergeblich, daß Tugend und Geist ihm diesen Ein¬
fluß versichern könnten. Bei dem fürchterlichen Umsturz der weltbehcrrschendcn
Republik, unter Waffen, Aufruhr, Verbrechen fand M. Tullius sich einzeln



') Diese 'Auffassung ist viel reifer, als was Müller 1776 über Cato bemerkt- „Als
wenn die Abänderung der Grundsähe oder derselben Modifikation nicht die erste Tugend wäre!
Es ist zur Erhaltung der Staaten die Ahndung der Unbeugsamkeit nöthig/' Noch eine
geistvoll erzählte Anekdote aus der Zeit des Verfalls- „Scipio entfloh zu Schiff: da es er¬
reicht und »ach ihm gefragt wurde, sprach er: Scipio ist hier und es geht ihm wohl. Unter
diesen Worten tödtete er sich. Er war sonst kein großer Man», aber Römer hatten ein Ge¬
fühl, das sie am Ende über alles erhob."
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[0272] griechischen Demokratien hatten keine planmäßige Organisirung, das Volk keine Mariinen, wodurch es vermocht hätte, wieder empor zu kommen; diese Nation war an Ideen zu reich, um systematisch zu handeln." — In der Auffassung der röunschen Geschichte unterscheidet sich Müller sehr vortheilhaft von Herder. Er sieht in dein mächtigen Kriegerstaat nicht blos die eiserne Abstraction, nicht blos die Zertrümmerung aller natürlichen Zustände, sondern die große sittliche Kraft, welche der Taktik einen wirklichen Inhalt gab. Seine Führer sind Plutarch und Macchiavell. Aus dem ersteren bringt er die Bilder und Anschauungen mit, Macchinvells Dis- cnrsi geben ihm die leitenden Gedanken. Auf kritische Untersuchungen der Verfassung läßt er sich gar nicht oder so oberflächlich ein, daß man diese kurzen Bemerkungen gern entbehren würde. Das Interesse beginnt haupt¬ sächlich bei der Darstellung des Verfalls. So sagt er von Cato: „Nie war ein dem Ideal der Tugend mehr ähnlicher Mann, der das Gute nur darum wirkte, weil anders zu handeln nicht in seiner Seele war. So viele Mühe seine Feinde sich gaben ihn herabzuwürdigen, dennoch blieb sein Name gleichbedeutend mit der Rechtschaffenheit selbst. Einen Fehler hatte Eatv (und niemand als er), daß er der herrschenden Verderbniß auf gar keine Weise sich fügen und lieber etwas Gutes unterlassen, als aus eine nicht ganz gesetz¬ mäßige Art handeln wollte. Mit mehr Nachgiebigkeit wäre er seinem Vater¬ land nützlicher gewesen, aber ein Cato würde der Geschichte der Menschheit fehlen."*) Ein sehr nahe liegender Vergleich drängt sich dein Leser auf, wenn Müller von Cicero spricht. Wenn der Vater der Musen Latinas, von dem Cäsar, einst sein Feind, so wahrhaft urtheilte, sein Lorbeer sei um so herrlicher als der militärische, um so mehr es heißen will, die Grenzen des menschlichen Geistes als die eines vergänglichen Reichs erweitert zu haben, wenn Cicero nach der Befreiung Roms von Catilina in weiser Einsamkeit mit Atticus den Wissenschaften gelebt hätte, so würde mancher schwache Zug seiner schonen Seele nicht erschienen sein. Er fühlte nicht, daß er poli¬ tischen Einfluß ruht nöthig hatte, um in den Jahrhunderten zu glänzen; und er schmeichelte sich vergeblich, daß Tugend und Geist ihm diesen Ein¬ fluß versichern könnten. Bei dem fürchterlichen Umsturz der weltbehcrrschendcn Republik, unter Waffen, Aufruhr, Verbrechen fand M. Tullius sich einzeln ') Diese 'Auffassung ist viel reifer, als was Müller 1776 über Cato bemerkt- „Als wenn die Abänderung der Grundsähe oder derselben Modifikation nicht die erste Tugend wäre! Es ist zur Erhaltung der Staaten die Ahndung der Unbeugsamkeit nöthig/' Noch eine geistvoll erzählte Anekdote aus der Zeit des Verfalls- „Scipio entfloh zu Schiff: da es er¬ reicht und »ach ihm gefragt wurde, sprach er: Scipio ist hier und es geht ihm wohl. Unter diesen Worten tödtete er sich. Er war sonst kein großer Man», aber Römer hatten ein Ge¬ fühl, das sie am Ende über alles erhob."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/272>, abgerufen am 21.12.2024.