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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Um einen großen historischen Charakter richtig zu zeichnen, ist Divination, oder^
wenn man will constructive Kraft nöthig: aus einer bloßen Copie der Quellen
geht immer nur ein Mosaikgemälde hervor. Auch derjenige Theil der Geschichte,
wo der Verstand ein ernstes Wort mitzusprechen hat. z. B. die Zeit des
kostniher Concils, hat feinen befriedigenden Abschluß. Zwar ist die Darstellung
reich an Ideen, aber diese erscheinen nur wie etwas Zufälliges, als geniale
Ahnung, oder auch gradezu als Reminiscenz; sie ergeben sich nicht mit innerer
Nothwendigkeit aus den Thatsachen. Weil er nicht im Stande ist zu gene-
ralisiren, überläßt er sich der Redekunst, der Weissagung, er flickt die Gedanken-
spähne ein, die er vorher in seinen Excerpten fixirt hat. Dazu kam, das, er
noch während der Vorstudien an die Ausarbeitung ging, und daß nicht selten
sein Urtheil erst nachträglich berichtigt wurde. In der ersten Ausgabe hat er
sich der Anmerkungen enthalten, desto zahlreicher Häuser sich diese in der zweiten.
Zuweilen steht hinter jedem Wort des Textes eine Zahl, die aus eine Note
verweist, und das peinigt bei der Lectüre um so mehr, da man diese Noten
nicht angehn kann. Bei dem zerstückelten Stoff war die chronologische Ordnung
nothwendig, aber um so mehr hat man den Eindruck des Unfertigen. Müller
empfand seine Mängel sehr wohl, aber er suchte den Grund nur in der un-
vollkommnen Feile. Er schreibt den 27. Feb. 1788 an Nicolan "Die Ursache
meiner oftmals dunklen Manier war immer der Mangel genügsamer Muße
zur Ausarbeitung; es ist mir nicht möglich gewesen, die Schweizergeschichte
auch nur abzuschreiben. Daher ein Excerptenstil, den lange Gewohnheit mir,
wie Haller, eigen gemacht. Auch was aus der Seele geflossen, ist aus diesem
Grunde nicht ein Heller Bach, sondern hervorbrechender trüber Alpenstrom, der
mehr fortreißt, als befeuchtet. Einzelne Stellen habe ich das zufällige Glück
gehabt, ein paarmal umarbeiten zu können; diese haben auch überall Beifall
gesunden. Bei uns Deutschen ist. was einer für Publicum und Nachwelt
übernimmt, fast immer blos Nebenbeschäftigung in crstohlenen Stunden; die
Hauptsache dagegen das. was am vergänglichsten ist und jeder kann -- Collegien
lesen, Bibliotheken rangiren u. tgi." -- Diese Auseinandersetzung beruht aus
einer Selbsttäuschung. Sein Stil ist am schönsten in einigen seiner Briefe,
wo er sich ganz der ersten Eingebung überläßt, am schlechtesten in seinen Vor¬
reden und kleinen Abhandlungen, die er 10--12 mal durchgearbeitet hat. Durch
die Feile schafft man wol einzelne Unebenheiten hinweg, aber den Inhalt
muß sie schon vorfinden, wenn man ein organisches Ganze haben will. -- Die
Fehler der Schweizergeschichte wurden schon in jener Zeit empfunden, sie treten
heut noch lebhafter hervor, da man überhaupt aus dein Wust deö Erkünsteltem
und Gemachtem wieder nach dem Natürlichen strebt. Aber es ist eme uner-
hörte Ungerechtigkeit, nur diese Fehler zu sehn. Der Stil ist nicht blos ein
äußerer Schmuck, er gM auch dem Inhalt erst den wahren Charakter und


Um einen großen historischen Charakter richtig zu zeichnen, ist Divination, oder^
wenn man will constructive Kraft nöthig: aus einer bloßen Copie der Quellen
geht immer nur ein Mosaikgemälde hervor. Auch derjenige Theil der Geschichte,
wo der Verstand ein ernstes Wort mitzusprechen hat. z. B. die Zeit des
kostniher Concils, hat feinen befriedigenden Abschluß. Zwar ist die Darstellung
reich an Ideen, aber diese erscheinen nur wie etwas Zufälliges, als geniale
Ahnung, oder auch gradezu als Reminiscenz; sie ergeben sich nicht mit innerer
Nothwendigkeit aus den Thatsachen. Weil er nicht im Stande ist zu gene-
ralisiren, überläßt er sich der Redekunst, der Weissagung, er flickt die Gedanken-
spähne ein, die er vorher in seinen Excerpten fixirt hat. Dazu kam, das, er
noch während der Vorstudien an die Ausarbeitung ging, und daß nicht selten
sein Urtheil erst nachträglich berichtigt wurde. In der ersten Ausgabe hat er
sich der Anmerkungen enthalten, desto zahlreicher Häuser sich diese in der zweiten.
Zuweilen steht hinter jedem Wort des Textes eine Zahl, die aus eine Note
verweist, und das peinigt bei der Lectüre um so mehr, da man diese Noten
nicht angehn kann. Bei dem zerstückelten Stoff war die chronologische Ordnung
nothwendig, aber um so mehr hat man den Eindruck des Unfertigen. Müller
empfand seine Mängel sehr wohl, aber er suchte den Grund nur in der un-
vollkommnen Feile. Er schreibt den 27. Feb. 1788 an Nicolan „Die Ursache
meiner oftmals dunklen Manier war immer der Mangel genügsamer Muße
zur Ausarbeitung; es ist mir nicht möglich gewesen, die Schweizergeschichte
auch nur abzuschreiben. Daher ein Excerptenstil, den lange Gewohnheit mir,
wie Haller, eigen gemacht. Auch was aus der Seele geflossen, ist aus diesem
Grunde nicht ein Heller Bach, sondern hervorbrechender trüber Alpenstrom, der
mehr fortreißt, als befeuchtet. Einzelne Stellen habe ich das zufällige Glück
gehabt, ein paarmal umarbeiten zu können; diese haben auch überall Beifall
gesunden. Bei uns Deutschen ist. was einer für Publicum und Nachwelt
übernimmt, fast immer blos Nebenbeschäftigung in crstohlenen Stunden; die
Hauptsache dagegen das. was am vergänglichsten ist und jeder kann — Collegien
lesen, Bibliotheken rangiren u. tgi." — Diese Auseinandersetzung beruht aus
einer Selbsttäuschung. Sein Stil ist am schönsten in einigen seiner Briefe,
wo er sich ganz der ersten Eingebung überläßt, am schlechtesten in seinen Vor¬
reden und kleinen Abhandlungen, die er 10—12 mal durchgearbeitet hat. Durch
die Feile schafft man wol einzelne Unebenheiten hinweg, aber den Inhalt
muß sie schon vorfinden, wenn man ein organisches Ganze haben will. — Die
Fehler der Schweizergeschichte wurden schon in jener Zeit empfunden, sie treten
heut noch lebhafter hervor, da man überhaupt aus dein Wust deö Erkünsteltem
und Gemachtem wieder nach dem Natürlichen strebt. Aber es ist eme uner-
hörte Ungerechtigkeit, nur diese Fehler zu sehn. Der Stil ist nicht blos ein
äußerer Schmuck, er gM auch dem Inhalt erst den wahren Charakter und


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[0229] Um einen großen historischen Charakter richtig zu zeichnen, ist Divination, oder^ wenn man will constructive Kraft nöthig: aus einer bloßen Copie der Quellen geht immer nur ein Mosaikgemälde hervor. Auch derjenige Theil der Geschichte, wo der Verstand ein ernstes Wort mitzusprechen hat. z. B. die Zeit des kostniher Concils, hat feinen befriedigenden Abschluß. Zwar ist die Darstellung reich an Ideen, aber diese erscheinen nur wie etwas Zufälliges, als geniale Ahnung, oder auch gradezu als Reminiscenz; sie ergeben sich nicht mit innerer Nothwendigkeit aus den Thatsachen. Weil er nicht im Stande ist zu gene- ralisiren, überläßt er sich der Redekunst, der Weissagung, er flickt die Gedanken- spähne ein, die er vorher in seinen Excerpten fixirt hat. Dazu kam, das, er noch während der Vorstudien an die Ausarbeitung ging, und daß nicht selten sein Urtheil erst nachträglich berichtigt wurde. In der ersten Ausgabe hat er sich der Anmerkungen enthalten, desto zahlreicher Häuser sich diese in der zweiten. Zuweilen steht hinter jedem Wort des Textes eine Zahl, die aus eine Note verweist, und das peinigt bei der Lectüre um so mehr, da man diese Noten nicht angehn kann. Bei dem zerstückelten Stoff war die chronologische Ordnung nothwendig, aber um so mehr hat man den Eindruck des Unfertigen. Müller empfand seine Mängel sehr wohl, aber er suchte den Grund nur in der un- vollkommnen Feile. Er schreibt den 27. Feb. 1788 an Nicolan „Die Ursache meiner oftmals dunklen Manier war immer der Mangel genügsamer Muße zur Ausarbeitung; es ist mir nicht möglich gewesen, die Schweizergeschichte auch nur abzuschreiben. Daher ein Excerptenstil, den lange Gewohnheit mir, wie Haller, eigen gemacht. Auch was aus der Seele geflossen, ist aus diesem Grunde nicht ein Heller Bach, sondern hervorbrechender trüber Alpenstrom, der mehr fortreißt, als befeuchtet. Einzelne Stellen habe ich das zufällige Glück gehabt, ein paarmal umarbeiten zu können; diese haben auch überall Beifall gesunden. Bei uns Deutschen ist. was einer für Publicum und Nachwelt übernimmt, fast immer blos Nebenbeschäftigung in crstohlenen Stunden; die Hauptsache dagegen das. was am vergänglichsten ist und jeder kann — Collegien lesen, Bibliotheken rangiren u. tgi." — Diese Auseinandersetzung beruht aus einer Selbsttäuschung. Sein Stil ist am schönsten in einigen seiner Briefe, wo er sich ganz der ersten Eingebung überläßt, am schlechtesten in seinen Vor¬ reden und kleinen Abhandlungen, die er 10—12 mal durchgearbeitet hat. Durch die Feile schafft man wol einzelne Unebenheiten hinweg, aber den Inhalt muß sie schon vorfinden, wenn man ein organisches Ganze haben will. — Die Fehler der Schweizergeschichte wurden schon in jener Zeit empfunden, sie treten heut noch lebhafter hervor, da man überhaupt aus dein Wust deö Erkünsteltem und Gemachtem wieder nach dem Natürlichen strebt. Aber es ist eme uner- hörte Ungerechtigkeit, nur diese Fehler zu sehn. Der Stil ist nicht blos ein äußerer Schmuck, er gM auch dem Inhalt erst den wahren Charakter und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/229>, abgerufen am 30.12.2024.