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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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statten kam, daß er bei den einfachen Verhältnissen der Schweiz, in deren ein¬
samen Thälern die Jahrhunderte wenig Veränderungen hervorgebracht, vieles
nach der Natur copiren konnte. Für die wertvollsten Züge seiner Chroniken
fand er entsprechende Gegenbilder in seiner nächsten Umgebung. Er hat ein
sehr reiches Material aufgespeichert und wo es blos darauf ankommt, die äußern
Umrisse zu fixiren, reicht dieses aus, doch merkt man überall mehr den Redner
als den Analytiker. Der glänzendste Theil seines Werkes beginnt mit der
Sage von Tell, deren Glaubwürdigkeit er gegen alle Anfechtungen vertheidigte.
Er hatte einen frommen historischen Sinn für jede Art der Ueberlieferung,
und wenn er sich gegen die zersetzende Kritik ereifert, die alle Anschauung in
Begriffe auflösen möchte, so war das zugleich im Interesse seines Talents.
Auch hätte es sich wenig mit dem treuherzigen Ton eines alten biderben
Chronisten, den er nunahm, vertragen, wenn er an die Heiligthümer des
Volkes, dessen Phantasie er kräftigen und in höhere Stimmung setzen wollte,
das Messer der kalten gelehrten Kritik gelegt hätte. In der That hat er in
den rührenden Gemälden jener Heldenkämpfe von Morgarten, Sempach, Gran-
son, Se. Jakob u. s. w. eine rhetorische Kraft entwickelt, die uns noch'heute
ergreift. Freilich gelingt es ihm auch hier mehr das Gemüth zu befriedigen als
den Verstand! über manche wichtige Punkte erhält man keine Auskunft, und
es sieht wunderlich genug aus, wenn man zuweilen die Hauptsache, aus die
es ankommt, in der Note suchen muß. Dagegen sind die rührenden Züge
der Helden mit großer Wirkung erzählt, und so wenig man die zusammen¬
gepreßte Sprache als Muster empfehlen kann, sie hat zuweilen etwas Hin¬
reißendes. Personen wie Erlach, Rudolph Brun, Hans Waldmann u. a., für
deren Porträt er das vollständige Material in seinen Chroniken fand, werden
dem Leser vollkommen gegenwärtig, das Mitgefühl wird rege und auch im
Ganzen das Urtheil befriedigt. Viel weniger gelingt ihm die Zeichnung solcher
Charaktere, die einen weitern Horizont verlangen. Müller hatte den Grund¬
satz, auch bei der Charakteristik nichts zu construiren. sondern alle einzelnen
Züge seiner Quellen aufzunehmen, auch wenn sie sich widersprachen. Dieser
Grundsatz, der wie die meisten schriftstellerischen Grundsätze eine Grenze seines
Talents ausdrückt, ließ sich wol bei einfachen Naturen und bei einheitlichen
Urkunden durchführen, aber uicht bei hochstehenden Menschen, die sehr ab¬
weichende Urtheile herausfordern. So ist ihm bei Ludwig ti. trotz seiner
Abneigung gegen alle historische Construction begegnet, daß er ihn gegen das
Zeugniß aller Quellen als eine Art von Musterkönig darstellt. Hier verräth
sich einmal der Schüler Macchiavells um so mehr, da es sich um einen Bandes-
genossen der Schweiz handelt. In Quentin Durward ist in dieser Beziehung
viel mehr historische Wahrheit, und man lernt aus ihm die beiden Fürsten
viel richtiger kennen als aus den betreffenden Capiteln der Schweizergeschichte.


statten kam, daß er bei den einfachen Verhältnissen der Schweiz, in deren ein¬
samen Thälern die Jahrhunderte wenig Veränderungen hervorgebracht, vieles
nach der Natur copiren konnte. Für die wertvollsten Züge seiner Chroniken
fand er entsprechende Gegenbilder in seiner nächsten Umgebung. Er hat ein
sehr reiches Material aufgespeichert und wo es blos darauf ankommt, die äußern
Umrisse zu fixiren, reicht dieses aus, doch merkt man überall mehr den Redner
als den Analytiker. Der glänzendste Theil seines Werkes beginnt mit der
Sage von Tell, deren Glaubwürdigkeit er gegen alle Anfechtungen vertheidigte.
Er hatte einen frommen historischen Sinn für jede Art der Ueberlieferung,
und wenn er sich gegen die zersetzende Kritik ereifert, die alle Anschauung in
Begriffe auflösen möchte, so war das zugleich im Interesse seines Talents.
Auch hätte es sich wenig mit dem treuherzigen Ton eines alten biderben
Chronisten, den er nunahm, vertragen, wenn er an die Heiligthümer des
Volkes, dessen Phantasie er kräftigen und in höhere Stimmung setzen wollte,
das Messer der kalten gelehrten Kritik gelegt hätte. In der That hat er in
den rührenden Gemälden jener Heldenkämpfe von Morgarten, Sempach, Gran-
son, Se. Jakob u. s. w. eine rhetorische Kraft entwickelt, die uns noch'heute
ergreift. Freilich gelingt es ihm auch hier mehr das Gemüth zu befriedigen als
den Verstand! über manche wichtige Punkte erhält man keine Auskunft, und
es sieht wunderlich genug aus, wenn man zuweilen die Hauptsache, aus die
es ankommt, in der Note suchen muß. Dagegen sind die rührenden Züge
der Helden mit großer Wirkung erzählt, und so wenig man die zusammen¬
gepreßte Sprache als Muster empfehlen kann, sie hat zuweilen etwas Hin¬
reißendes. Personen wie Erlach, Rudolph Brun, Hans Waldmann u. a., für
deren Porträt er das vollständige Material in seinen Chroniken fand, werden
dem Leser vollkommen gegenwärtig, das Mitgefühl wird rege und auch im
Ganzen das Urtheil befriedigt. Viel weniger gelingt ihm die Zeichnung solcher
Charaktere, die einen weitern Horizont verlangen. Müller hatte den Grund¬
satz, auch bei der Charakteristik nichts zu construiren. sondern alle einzelnen
Züge seiner Quellen aufzunehmen, auch wenn sie sich widersprachen. Dieser
Grundsatz, der wie die meisten schriftstellerischen Grundsätze eine Grenze seines
Talents ausdrückt, ließ sich wol bei einfachen Naturen und bei einheitlichen
Urkunden durchführen, aber uicht bei hochstehenden Menschen, die sehr ab¬
weichende Urtheile herausfordern. So ist ihm bei Ludwig ti. trotz seiner
Abneigung gegen alle historische Construction begegnet, daß er ihn gegen das
Zeugniß aller Quellen als eine Art von Musterkönig darstellt. Hier verräth
sich einmal der Schüler Macchiavells um so mehr, da es sich um einen Bandes-
genossen der Schweiz handelt. In Quentin Durward ist in dieser Beziehung
viel mehr historische Wahrheit, und man lernt aus ihm die beiden Fürsten
viel richtiger kennen als aus den betreffenden Capiteln der Schweizergeschichte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/228>, abgerufen am 21.12.2024.