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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band.

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Bezahlung nähme, so sehen wir doch. daß das hungernde Volk, welches sich
von einem mit einem Stocke bewaffneten Bäcker in Schranken halten läßt,
nicht sehr schlimm ist. Und das ist dasselbe Volk, welches bei andern Gelegen¬
heiten z. B. bei Judenverfolgungen in unbezähmbarer Wuth ausflammt und
jeden, auch den Mächtigsten, der sich ihm zu widersetzen und den Verfolgten
zu vertheidigen wagt, mit dem Tode bedroht. Insofern haben die Recht,
welche das Proletariat als ein Product der neuern Zeit darstellen, es fehlte
den Armen von damals das Bewußtsein ihrer Gesammtheit, sie dachten nicht
daran, sich als eine besondere Classe gegenüber einer günstiger situirter Mino¬
rität aufzufassen, jenes bewußte Proletariat, welches geneigt ist, die natürliche
Ungleichheit der Menschen als eine Folge mangelhafter Staatseinrichtungen
anzusehen, und in jedem Reichen einen Feind seiner selbst und seiner gerechten
Ansprüche zu erblicken, dies ist allerdings modernen Ursprungs.

Die Armen in jenen Tagen kannten eigentlich in den Zeiten der Noth
nur ein einziges Mittel, derselben zu entgehen, nämlich massenhafte Aus¬
wanderung in Länder, wo die Theurung weniger herrschte. Natürlich waren
sie auch dort nicht grade gern gesehene Gäste und oft bekam ihnen das Aus¬
wandern sehr schlecht; es entstand nun auch wol hier Theurung, und der
Hungertod, dem sie hatten entfliehen wollen, ereilte sie doch. Als im Jahre
1.282 Viele der Theurung wegen nach Ungarn und Rußland auswanderten,
wurden sie massenweise in die Sklaverei, zu den Tartaren, wie es heißt, ver¬
kauft. Und als 1317 sich abermals der Strom der Auswanderer dahin rich¬
tete, und eine große Menge in einem vollgepfropften Schiffe über die Donau
setzen wollte, warf der Fährmann das Schiff um, denn es sei besser, meinte
er, daß sie alle in der Donau ertränken, als daß solch eine Masse Hungerleider
Ungarn aussauge.

Vielfach berichten auch alte Sagen, wenn sie von den Wanderungen der
Völkerstämme kundgeben, daß Hungersnoth einen Theil der Nation aus ihrem
ursprünglichen Sitze getrieben. König Snio von Dänemark beschließt in solcher
Zeit aus den Rath der nettesten, der dritte Theil seines Volkes solle getödtet
werden, auf daß nicht alle Hungers stürben; da weis; eine alte Frau beim
König sich Gehör zu verschaffen und den entsetzlichen Beschluß rückgängig zu
macheu, dafür soll der dritte Theil des Volkes auswandern; diese Auswanderer
erhalten dann 5en Namen der Longobarden.

Jenes dort nur beabsichtigte fürchterliche Radikalmittel. die Zahl der
Notleidenden zu vermindern und durch Mord dem Hunger seine Opfer zu
entziehen, läßt die Sage ans deutschem Boden wirklich zur Ausführung kom¬
men. Wer kennt nicht die schreckliche Geschichte, an welche der Mäusethurm
bei Bingen erinnert, wie Hatto von Mainz die Armen an sich lockt und sie
dann in großer Menge verbrennen läßt; und ebenso soll bei der schrecklichen


Bezahlung nähme, so sehen wir doch. daß das hungernde Volk, welches sich
von einem mit einem Stocke bewaffneten Bäcker in Schranken halten läßt,
nicht sehr schlimm ist. Und das ist dasselbe Volk, welches bei andern Gelegen¬
heiten z. B. bei Judenverfolgungen in unbezähmbarer Wuth ausflammt und
jeden, auch den Mächtigsten, der sich ihm zu widersetzen und den Verfolgten
zu vertheidigen wagt, mit dem Tode bedroht. Insofern haben die Recht,
welche das Proletariat als ein Product der neuern Zeit darstellen, es fehlte
den Armen von damals das Bewußtsein ihrer Gesammtheit, sie dachten nicht
daran, sich als eine besondere Classe gegenüber einer günstiger situirter Mino¬
rität aufzufassen, jenes bewußte Proletariat, welches geneigt ist, die natürliche
Ungleichheit der Menschen als eine Folge mangelhafter Staatseinrichtungen
anzusehen, und in jedem Reichen einen Feind seiner selbst und seiner gerechten
Ansprüche zu erblicken, dies ist allerdings modernen Ursprungs.

Die Armen in jenen Tagen kannten eigentlich in den Zeiten der Noth
nur ein einziges Mittel, derselben zu entgehen, nämlich massenhafte Aus¬
wanderung in Länder, wo die Theurung weniger herrschte. Natürlich waren
sie auch dort nicht grade gern gesehene Gäste und oft bekam ihnen das Aus¬
wandern sehr schlecht; es entstand nun auch wol hier Theurung, und der
Hungertod, dem sie hatten entfliehen wollen, ereilte sie doch. Als im Jahre
1.282 Viele der Theurung wegen nach Ungarn und Rußland auswanderten,
wurden sie massenweise in die Sklaverei, zu den Tartaren, wie es heißt, ver¬
kauft. Und als 1317 sich abermals der Strom der Auswanderer dahin rich¬
tete, und eine große Menge in einem vollgepfropften Schiffe über die Donau
setzen wollte, warf der Fährmann das Schiff um, denn es sei besser, meinte
er, daß sie alle in der Donau ertränken, als daß solch eine Masse Hungerleider
Ungarn aussauge.

Vielfach berichten auch alte Sagen, wenn sie von den Wanderungen der
Völkerstämme kundgeben, daß Hungersnoth einen Theil der Nation aus ihrem
ursprünglichen Sitze getrieben. König Snio von Dänemark beschließt in solcher
Zeit aus den Rath der nettesten, der dritte Theil seines Volkes solle getödtet
werden, auf daß nicht alle Hungers stürben; da weis; eine alte Frau beim
König sich Gehör zu verschaffen und den entsetzlichen Beschluß rückgängig zu
macheu, dafür soll der dritte Theil des Volkes auswandern; diese Auswanderer
erhalten dann 5en Namen der Longobarden.

Jenes dort nur beabsichtigte fürchterliche Radikalmittel. die Zahl der
Notleidenden zu vermindern und durch Mord dem Hunger seine Opfer zu
entziehen, läßt die Sage ans deutschem Boden wirklich zur Ausführung kom¬
men. Wer kennt nicht die schreckliche Geschichte, an welche der Mäusethurm
bei Bingen erinnert, wie Hatto von Mainz die Armen an sich lockt und sie
dann in großer Menge verbrennen läßt; und ebenso soll bei der schrecklichen


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[0117] Bezahlung nähme, so sehen wir doch. daß das hungernde Volk, welches sich von einem mit einem Stocke bewaffneten Bäcker in Schranken halten läßt, nicht sehr schlimm ist. Und das ist dasselbe Volk, welches bei andern Gelegen¬ heiten z. B. bei Judenverfolgungen in unbezähmbarer Wuth ausflammt und jeden, auch den Mächtigsten, der sich ihm zu widersetzen und den Verfolgten zu vertheidigen wagt, mit dem Tode bedroht. Insofern haben die Recht, welche das Proletariat als ein Product der neuern Zeit darstellen, es fehlte den Armen von damals das Bewußtsein ihrer Gesammtheit, sie dachten nicht daran, sich als eine besondere Classe gegenüber einer günstiger situirter Mino¬ rität aufzufassen, jenes bewußte Proletariat, welches geneigt ist, die natürliche Ungleichheit der Menschen als eine Folge mangelhafter Staatseinrichtungen anzusehen, und in jedem Reichen einen Feind seiner selbst und seiner gerechten Ansprüche zu erblicken, dies ist allerdings modernen Ursprungs. Die Armen in jenen Tagen kannten eigentlich in den Zeiten der Noth nur ein einziges Mittel, derselben zu entgehen, nämlich massenhafte Aus¬ wanderung in Länder, wo die Theurung weniger herrschte. Natürlich waren sie auch dort nicht grade gern gesehene Gäste und oft bekam ihnen das Aus¬ wandern sehr schlecht; es entstand nun auch wol hier Theurung, und der Hungertod, dem sie hatten entfliehen wollen, ereilte sie doch. Als im Jahre 1.282 Viele der Theurung wegen nach Ungarn und Rußland auswanderten, wurden sie massenweise in die Sklaverei, zu den Tartaren, wie es heißt, ver¬ kauft. Und als 1317 sich abermals der Strom der Auswanderer dahin rich¬ tete, und eine große Menge in einem vollgepfropften Schiffe über die Donau setzen wollte, warf der Fährmann das Schiff um, denn es sei besser, meinte er, daß sie alle in der Donau ertränken, als daß solch eine Masse Hungerleider Ungarn aussauge. Vielfach berichten auch alte Sagen, wenn sie von den Wanderungen der Völkerstämme kundgeben, daß Hungersnoth einen Theil der Nation aus ihrem ursprünglichen Sitze getrieben. König Snio von Dänemark beschließt in solcher Zeit aus den Rath der nettesten, der dritte Theil seines Volkes solle getödtet werden, auf daß nicht alle Hungers stürben; da weis; eine alte Frau beim König sich Gehör zu verschaffen und den entsetzlichen Beschluß rückgängig zu macheu, dafür soll der dritte Theil des Volkes auswandern; diese Auswanderer erhalten dann 5en Namen der Longobarden. Jenes dort nur beabsichtigte fürchterliche Radikalmittel. die Zahl der Notleidenden zu vermindern und durch Mord dem Hunger seine Opfer zu entziehen, läßt die Sage ans deutschem Boden wirklich zur Ausführung kom¬ men. Wer kennt nicht die schreckliche Geschichte, an welche der Mäusethurm bei Bingen erinnert, wie Hatto von Mainz die Armen an sich lockt und sie dann in großer Menge verbrennen läßt; und ebenso soll bei der schrecklichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_186412/117>, abgerufen am 21.12.2024.