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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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ständischen Einrichtungen haben keinen innern Boden mehr, die Militärdespotie
ist nur als Uebergang denkbar, denn als Dauer wäre sie der Ruin eines
Volkes, und so mußte es kommen, daß die Völker Europas mit mehr oder
weniger Bewußtsein sich den englischen Einrichtungen zuwandten, direct oder
auf dem Umwege durch Frankreich. Dieser zweite Weg hat sich als verfehlt
gezeigt, der erste tritt schärfer und schärfer als der allein richtige hervor, nicht
um das Englische unmittelbar nachzuahmen, sondern um es zu erkennen und
den Boden zu vielleicht ähnlichen Zuständen zu schaffen. Denn auf diesen
Punkt ist trotz aller so reichlich gebotenen gallsüchtigem Kritik Englands die
öffentliche Stimmung Deutschlands wieder zurückgekommen, und nichts ist in
dieser Beziehung beredter, als die allgemeine innere Befriedigung, mit welcher
nicht blos in Preußen das am 25. Jan. in London geschlossene Ehebündniß
aufgenommen wurde. Gewiß giebt es Wenige, die nicht über die Persönlichkeiten
hinweg in ihm einen neuen und bedeutsamen Wendepunkt in der innern Ge¬
schichte Deutschlands gesehen haben und allem Anschein nach auch mit Recht.

Man sollte nun meinen, daß bei dieser anhaltenden Beschäftigung mit
englischen Zuständen, wie sie sich durch die Entwicklungsgeschichte des ganzen
modernen Europa hindurchzieht, wenigstens die Kenntniß der factischen Grund¬
lagen derselben mit einiger annähernden Nichtigkeit ziemlich verbreitet wäre.
Allein dem stand grade die kaum jemals leidenschaftslose und unbefangene
Stellung entgegen, welche der ganzen Behandlung dieses Gegenstandes zu
Theil wurde. Ebenso oft, daß man das nicht sehen wollte, was da war,
als daß man zu sehen vermeinte, was sich nicht dort vorfand. Oder man
sah nur mit den auf dem Kontinent gewohnten Voraussetzungen. Nun aber
sind die Begriffe von Staat und Gesellschaft in England in bedeutend ab¬
weichender Weise zur Entwicklung gekommen, wie sehr auch in manchen Einzel¬
heiten continentale Erscheinungen hinüber gewirkt haben mögen. So konnte
es denn geschehen, daß man dort alles vorfand, was sich zu bestimmten po¬
litischen Zwecken verwenden ließ; das constitutionelle Königthum, die Aristo¬
kratie, der Parlamentarismus, die Demokratie, für dies alles und noch mehr
sollte England je nach den Menschen und den Zeiten ein Musterbild liefern;
nur eine einzige politische Richtung hat dort niemals ihre Rechnung gefunden,
der Absolutismus, um so weniger, da die englische Freiheit der englischen
Machtentwicklung nie im Wege gestanden hatte. Wie aber gesagt, die Grund¬
lage einer eingehenden und ausreichenden Beurtheilung, die Kenntniß des
Factischen, war mangelhaft genug.

Es ist aber noch ein anderer Uebelstand, welcher entschieden zu diesem
Mangel beigetragen hat, die Formlosigkeit und theilweise Unbrauchbarkeit der
englischen Quellen für continentale Leser. Das öffentliche und das Privat¬
recht sind in England noch immer nicht gesondert, das ganze Rechtsleben be-


Grenzboten III. 13SS. 12

ständischen Einrichtungen haben keinen innern Boden mehr, die Militärdespotie
ist nur als Uebergang denkbar, denn als Dauer wäre sie der Ruin eines
Volkes, und so mußte es kommen, daß die Völker Europas mit mehr oder
weniger Bewußtsein sich den englischen Einrichtungen zuwandten, direct oder
auf dem Umwege durch Frankreich. Dieser zweite Weg hat sich als verfehlt
gezeigt, der erste tritt schärfer und schärfer als der allein richtige hervor, nicht
um das Englische unmittelbar nachzuahmen, sondern um es zu erkennen und
den Boden zu vielleicht ähnlichen Zuständen zu schaffen. Denn auf diesen
Punkt ist trotz aller so reichlich gebotenen gallsüchtigem Kritik Englands die
öffentliche Stimmung Deutschlands wieder zurückgekommen, und nichts ist in
dieser Beziehung beredter, als die allgemeine innere Befriedigung, mit welcher
nicht blos in Preußen das am 25. Jan. in London geschlossene Ehebündniß
aufgenommen wurde. Gewiß giebt es Wenige, die nicht über die Persönlichkeiten
hinweg in ihm einen neuen und bedeutsamen Wendepunkt in der innern Ge¬
schichte Deutschlands gesehen haben und allem Anschein nach auch mit Recht.

Man sollte nun meinen, daß bei dieser anhaltenden Beschäftigung mit
englischen Zuständen, wie sie sich durch die Entwicklungsgeschichte des ganzen
modernen Europa hindurchzieht, wenigstens die Kenntniß der factischen Grund¬
lagen derselben mit einiger annähernden Nichtigkeit ziemlich verbreitet wäre.
Allein dem stand grade die kaum jemals leidenschaftslose und unbefangene
Stellung entgegen, welche der ganzen Behandlung dieses Gegenstandes zu
Theil wurde. Ebenso oft, daß man das nicht sehen wollte, was da war,
als daß man zu sehen vermeinte, was sich nicht dort vorfand. Oder man
sah nur mit den auf dem Kontinent gewohnten Voraussetzungen. Nun aber
sind die Begriffe von Staat und Gesellschaft in England in bedeutend ab¬
weichender Weise zur Entwicklung gekommen, wie sehr auch in manchen Einzel¬
heiten continentale Erscheinungen hinüber gewirkt haben mögen. So konnte
es denn geschehen, daß man dort alles vorfand, was sich zu bestimmten po¬
litischen Zwecken verwenden ließ; das constitutionelle Königthum, die Aristo¬
kratie, der Parlamentarismus, die Demokratie, für dies alles und noch mehr
sollte England je nach den Menschen und den Zeiten ein Musterbild liefern;
nur eine einzige politische Richtung hat dort niemals ihre Rechnung gefunden,
der Absolutismus, um so weniger, da die englische Freiheit der englischen
Machtentwicklung nie im Wege gestanden hatte. Wie aber gesagt, die Grund¬
lage einer eingehenden und ausreichenden Beurtheilung, die Kenntniß des
Factischen, war mangelhaft genug.

Es ist aber noch ein anderer Uebelstand, welcher entschieden zu diesem
Mangel beigetragen hat, die Formlosigkeit und theilweise Unbrauchbarkeit der
englischen Quellen für continentale Leser. Das öffentliche und das Privat¬
recht sind in England noch immer nicht gesondert, das ganze Rechtsleben be-


Grenzboten III. 13SS. 12
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/97>, abgerufen am 22.07.2024.