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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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wege sich dort in einer Reihe höchst wunderlicher Formen, welche die schon
sonst abweichenden Zustände uns noch fremder erscheinen lassen; der englische
Schriftsteller arbeitet aber für ein Publicum, das mit dem allem vertraut und
zum Theil verwachsen ist, und noch mehr, er arbeitet häusig in Unkenntnis)
der continentalen Anschauungen. Der allerwesentlichste Uebelstand ist aber die
Stellung innerhalb einer bestimmten Partei, welche englische Schriftsteller mit
oder ohne Bewußtsein zu allen Fragen des öffentlichen Rechts nehmen, mögen
sie sich aus die Gegenwart beziehen, oder in serner, ferner Vergangenheit lie¬
gen. Fast ausnahmslos haben daher auch deren Untersuchungen über staats¬
rechtliche Fragen ihrer Heimath den breiten Hintergrund politischer Parteizwecke;
sie wollen finden, was sie nachher entdecken und so vielseitig daher auch
die Gesammtheit der angestellten Forschungen sein mag, jede einzelne ist nur
bis zu einem gewissen Grade brauchbar. Es ist nun weiter eine vielleicht in
der Natur der Sache liegende Thatsache, daß die glänzendsten Schriftsteller der
englischen Nation über einheimisches Verfassungsrecht in alter und neuer Zeit,
ein Hallcun, ein Macaulay, ein Lord I. Rüssel, der Partei des Fortschritts,
wie man es aus dem Continente nennen würde, augehören, und da grade
auch diese Richtung bei denen, welche vom Continente aus nach England
blickten, den größten Anklang fand, so war es um so begreiflicher, daß ihre
Anschauungen und ihre Urtheile über Thatsächliches am tiefsten hier Wurzel
faßten. Der für das englische Staatsrecht wichtigste, weil am meisten in Eng¬
land verbreitete, Schriftsteller über Englands öffentliches Recht, Blackstone, steht
nun wiederum dem Continente fremder, vorzugsweise wol weil er meist blos
als Lehrer des englischen Privatrechts angesehen wird, das jedoch, wie bereits
bemerkt, dort vom Staatsrecht noch gar nicht gesondert ist. Blackstone schreibt
begreiflicherweise als Jurist und hat darum auch besondern Sinn für das
Formelle; in seiner allgemeinen Richtung sind jedoch die Spuren eines Rück-
einflusses französischer Ideen über England kaum verkennbar, namentlich da,
wo er die glückliche Vereinigung des königlichen, des aristokratischen und des
populären Elements in England schildert.

Man hat neuerdings den auf dem Continent herrschenden Ansichten über
englische Geschichte und englische Zustünde wiederholt vorgeworfen, daß sie
viele t'Mös eonveimes enthielten. Dieser Vorwurf, der gemeinsam und viel¬
leicht zuerst England trifft, enthält manches Wahre, und findet er aus dem
bisher Erörterten seine hinlängliche Erklärung; nur sind die, welche ihn am
lautesten erheben, mit einem wunderbaren Eifer bemüht, statt der alten Fa¬
beln einen neuen Mythus zu erfinden. Zu einer Kritik englischer Zustünde
gehört aber mehr als die gelegentliche und obendrein scharf tendenziöse Be¬
sprechung des Einzelnen; es gehört dazu der Wille sowol, als die Fähigkeit
gerecht sein zu wollen, es gehört dazu die Kenntniß der öffentlichen Zustünde


wege sich dort in einer Reihe höchst wunderlicher Formen, welche die schon
sonst abweichenden Zustände uns noch fremder erscheinen lassen; der englische
Schriftsteller arbeitet aber für ein Publicum, das mit dem allem vertraut und
zum Theil verwachsen ist, und noch mehr, er arbeitet häusig in Unkenntnis)
der continentalen Anschauungen. Der allerwesentlichste Uebelstand ist aber die
Stellung innerhalb einer bestimmten Partei, welche englische Schriftsteller mit
oder ohne Bewußtsein zu allen Fragen des öffentlichen Rechts nehmen, mögen
sie sich aus die Gegenwart beziehen, oder in serner, ferner Vergangenheit lie¬
gen. Fast ausnahmslos haben daher auch deren Untersuchungen über staats¬
rechtliche Fragen ihrer Heimath den breiten Hintergrund politischer Parteizwecke;
sie wollen finden, was sie nachher entdecken und so vielseitig daher auch
die Gesammtheit der angestellten Forschungen sein mag, jede einzelne ist nur
bis zu einem gewissen Grade brauchbar. Es ist nun weiter eine vielleicht in
der Natur der Sache liegende Thatsache, daß die glänzendsten Schriftsteller der
englischen Nation über einheimisches Verfassungsrecht in alter und neuer Zeit,
ein Hallcun, ein Macaulay, ein Lord I. Rüssel, der Partei des Fortschritts,
wie man es aus dem Continente nennen würde, augehören, und da grade
auch diese Richtung bei denen, welche vom Continente aus nach England
blickten, den größten Anklang fand, so war es um so begreiflicher, daß ihre
Anschauungen und ihre Urtheile über Thatsächliches am tiefsten hier Wurzel
faßten. Der für das englische Staatsrecht wichtigste, weil am meisten in Eng¬
land verbreitete, Schriftsteller über Englands öffentliches Recht, Blackstone, steht
nun wiederum dem Continente fremder, vorzugsweise wol weil er meist blos
als Lehrer des englischen Privatrechts angesehen wird, das jedoch, wie bereits
bemerkt, dort vom Staatsrecht noch gar nicht gesondert ist. Blackstone schreibt
begreiflicherweise als Jurist und hat darum auch besondern Sinn für das
Formelle; in seiner allgemeinen Richtung sind jedoch die Spuren eines Rück-
einflusses französischer Ideen über England kaum verkennbar, namentlich da,
wo er die glückliche Vereinigung des königlichen, des aristokratischen und des
populären Elements in England schildert.

Man hat neuerdings den auf dem Continent herrschenden Ansichten über
englische Geschichte und englische Zustünde wiederholt vorgeworfen, daß sie
viele t'Mös eonveimes enthielten. Dieser Vorwurf, der gemeinsam und viel¬
leicht zuerst England trifft, enthält manches Wahre, und findet er aus dem
bisher Erörterten seine hinlängliche Erklärung; nur sind die, welche ihn am
lautesten erheben, mit einem wunderbaren Eifer bemüht, statt der alten Fa¬
beln einen neuen Mythus zu erfinden. Zu einer Kritik englischer Zustünde
gehört aber mehr als die gelegentliche und obendrein scharf tendenziöse Be¬
sprechung des Einzelnen; es gehört dazu der Wille sowol, als die Fähigkeit
gerecht sein zu wollen, es gehört dazu die Kenntniß der öffentlichen Zustünde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/98>, abgerufen am 22.07.2024.