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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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keit England gegenüber brüstet, erblickt man in Frankreich ein ganz anderes
Schauspiel. Es kann verschiedene Ansichten darüber geben, ob Napoleon III.
eine durch die Umstände gebotene Nothwendigkeit für Europa oder für Frank¬
reich ist; darüber aber wird wenig Zweifel sein, daß das jetzige politische Re¬
giment in Frankreich auf alle edlern Kräfte in der Nation mit unermeßlicher
Schwere drückt. Dieses Frankreich, das eigentliche Land der Freiheit, wie
die Franzosen sich einst so stolz einbildeten, an der Spitze der europäischen
Civilisation stehend, wie noch heute zuweilen von ihnen behauptet wird, wie
tief ist es doch in den Augen der Bessern gedemüthigt! In dieser' traurigen
Vernichtung so vieler Illusionen und so großer Hoffnungen geht durch Alle,
welche ihr Vaterland und die Zukunft noch nicht aufgegeben haben, neben
dem Ton der Zerknirschung ein Zug des Lernenwollens aus England. Wie
die Deutschen unter dem ersten Napoleon, so beginnen die Franzosen unter
dem dritten Napoleon das tiefere Wesen englischer Staatseinrichtungen zu
studiren, und um so entschiedener tritt diese Richtung hervor, je freier und
von socialistischen Bestrebungen ungetrübt der politische Glaube ist. Ledrü-
Nollin debütirte seinen jetzigen Aufenthalt in England mit einer "Verfall Eng¬
lands" betitelten Caricatur; der "Sivcle" dagegen, das Blatt des freisinni¬
gen Bürgerstandes in Frankreich, geht in seiner Anerkennung nicht blos eng¬
lischen Staatswesens, sondern auch der gescnnmten derzeitigen Zustände in
England weiter, als manche entsprechende Richtung in Deutschland. Derselbe
Zug zeigt sich auch in der größern publicistischen Literatur des jetzigen Frank¬
reich und ist er namentlich in den Werken von Tocqueville, Hauranne u. a.
vertreten. Wir unsererseits möchten in dieser gewiß nicht ganz neidlosen Be¬
schauung des alten Erbfeindes und jetzigen Bundesgenossen, so wie in der
innerlichen Sammlung, die damit verknüpft ist, manchen hoffnungsreichen
Keim für das zukünftige Frankreich erblicken. Grade die abgestorbenste Partei
auf französischem Boden, die legrtimistische, verfolgt im Verein mit der ultra¬
montan-klerikalen Partei England mit der ganzen Malice eines ohnmächtigen
Zorns, und was die eigentlichen Bonapartisten betrifft, so ist von einer wirk¬
lichen politischen Richtung bei ihnen nur wenig zu finden, da sie stets getreulich
die Worte ihres Herrn und Meisters nachsprechen.

Wir haben im Bisherigen die nationalen und geschichtlichen Anziehungs¬
und Abstoßungskräfte zwischen England und dem Kontinent nur sehr übersichtlich
geben können; in seine Einzelheiten verfolgt, wäre dieser Gegenstand eins der lehr¬
reichsten Themate der neuern Kulturgeschichte^ England, das auf dem weiten
Erdkreis fast alle Völker in den Bereich seiner Machtentwicklung zu ziehen
weiß, hat den ihm an allgemeiner Civilisation ebenbürtigen europäischen Na¬
tionen in neuerer Zeit fast ausschließlich als Musterbild zur innern Entwicklung
gedient. Das alte Lehnwesen ist bei ihnen nur noch in Bruchstücken da, die


keit England gegenüber brüstet, erblickt man in Frankreich ein ganz anderes
Schauspiel. Es kann verschiedene Ansichten darüber geben, ob Napoleon III.
eine durch die Umstände gebotene Nothwendigkeit für Europa oder für Frank¬
reich ist; darüber aber wird wenig Zweifel sein, daß das jetzige politische Re¬
giment in Frankreich auf alle edlern Kräfte in der Nation mit unermeßlicher
Schwere drückt. Dieses Frankreich, das eigentliche Land der Freiheit, wie
die Franzosen sich einst so stolz einbildeten, an der Spitze der europäischen
Civilisation stehend, wie noch heute zuweilen von ihnen behauptet wird, wie
tief ist es doch in den Augen der Bessern gedemüthigt! In dieser' traurigen
Vernichtung so vieler Illusionen und so großer Hoffnungen geht durch Alle,
welche ihr Vaterland und die Zukunft noch nicht aufgegeben haben, neben
dem Ton der Zerknirschung ein Zug des Lernenwollens aus England. Wie
die Deutschen unter dem ersten Napoleon, so beginnen die Franzosen unter
dem dritten Napoleon das tiefere Wesen englischer Staatseinrichtungen zu
studiren, und um so entschiedener tritt diese Richtung hervor, je freier und
von socialistischen Bestrebungen ungetrübt der politische Glaube ist. Ledrü-
Nollin debütirte seinen jetzigen Aufenthalt in England mit einer „Verfall Eng¬
lands" betitelten Caricatur; der „Sivcle" dagegen, das Blatt des freisinni¬
gen Bürgerstandes in Frankreich, geht in seiner Anerkennung nicht blos eng¬
lischen Staatswesens, sondern auch der gescnnmten derzeitigen Zustände in
England weiter, als manche entsprechende Richtung in Deutschland. Derselbe
Zug zeigt sich auch in der größern publicistischen Literatur des jetzigen Frank¬
reich und ist er namentlich in den Werken von Tocqueville, Hauranne u. a.
vertreten. Wir unsererseits möchten in dieser gewiß nicht ganz neidlosen Be¬
schauung des alten Erbfeindes und jetzigen Bundesgenossen, so wie in der
innerlichen Sammlung, die damit verknüpft ist, manchen hoffnungsreichen
Keim für das zukünftige Frankreich erblicken. Grade die abgestorbenste Partei
auf französischem Boden, die legrtimistische, verfolgt im Verein mit der ultra¬
montan-klerikalen Partei England mit der ganzen Malice eines ohnmächtigen
Zorns, und was die eigentlichen Bonapartisten betrifft, so ist von einer wirk¬
lichen politischen Richtung bei ihnen nur wenig zu finden, da sie stets getreulich
die Worte ihres Herrn und Meisters nachsprechen.

Wir haben im Bisherigen die nationalen und geschichtlichen Anziehungs¬
und Abstoßungskräfte zwischen England und dem Kontinent nur sehr übersichtlich
geben können; in seine Einzelheiten verfolgt, wäre dieser Gegenstand eins der lehr¬
reichsten Themate der neuern Kulturgeschichte^ England, das auf dem weiten
Erdkreis fast alle Völker in den Bereich seiner Machtentwicklung zu ziehen
weiß, hat den ihm an allgemeiner Civilisation ebenbürtigen europäischen Na¬
tionen in neuerer Zeit fast ausschließlich als Musterbild zur innern Entwicklung
gedient. Das alte Lehnwesen ist bei ihnen nur noch in Bruchstücken da, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/96>, abgerufen am 22.07.2024.