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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Staat, der über die einfachen Verhältnisse eines kleinen schweizer Cantons
hinausgekommen war, in irgend andrer Weise fortleben könne. Bei den fran¬
zösischen und französisch denkenden Socialisten, die eben keine Freiheit wollten,
und welche noch weniger eine Ahnung von selbstständigen Entwicklungen inner¬
halb des Staats selbst, der Grundbedingung eines gesunden parlamentari¬
schen Seins hatten, war eine solche Abneigung verständlich, ganz gewiß aber
nicht für die ihnen noch nicht zugefallene deutsche Demokratie. Für diese
letztere hat denn auch die Zeit bereits eine Aenderung zum Bessern herbei¬
geführt. Es ist im Grunde leicht genug, einzelne Erscheinungen und Aus¬
wüchse des Parlamentarismus, die man aus dem Ganzen herausgerissen, als
deren Wesen zu behandeln und zu mißhandeln; man imponirt dadurch der
Trägheit derer, die nicht selbst denken können, stellt aber der eignen Urtheils-
fähigkeit ein ziemlich schlechtes Zeugniß aus.

Das gilt denn auch von der allerneuesten Richtung der Kritik englischer
Zustände, wie sie sich in einem großen Theil der deutschen Zeitungspresse kund
gibt. Wer wissen will, wie ein politisches Sodom und Gomorrha aussieht,
der instruire sich darüber in der Polemik deutscher Flüchtlinge in England gegen
England. Sie haben die englische Staatsverwaltung und das englische Par¬
lament unter ihre Loupe genommen und erzählen der Welt, welche Wunder¬
dinge sie dabei wahrnehmen; das kommt aber eben nur, weil sie das Kleine
groß sehen und für das Große gar kein Auge haben. Was ihnen an
Klarheit der Begriffe abgeht, das ersetzen sie durch einen Jargon, der
nicht allenthalben verständlich sein möchte; warum muß es denn "grade als
Schimpf angesehen werden> staatsmännisch, echt constitutionell oder gar re-
spectabel zu sein? Sie lieben England so sehr, daß sie es fortwährend züch¬
tigen, und wenn es dort noch ein Parlament gibt, wenn die Times noch ihre
50,000 Abonnenten zählt, sie sind gewiß nicht daran Schuld. Ihr Haupt¬
vertreter Lothar Bucher, hat ein Buch geschrieben, "Der Parlamentarismus,
wie er ist", eine glänzende Darstellung Englands -- wie es nicht ist; er ist
Widersacher des englischen Parlaments, wie es sich im Verlauf der Jahrhun¬
derte herangebildet hat, er bezeichnet diesen Entwicklungsgang nicht undeut¬
lich als Usurpation, > und beschwört statt dieses Parlaments aus dem Staub
der Vergangenheit das altenglische Lommon lan heraus. Man braucht diesen
Gedankengang nur zu bezeichnen, um sofort das vollkommen Unhistorische und
Unberechtigte desselben herauszufühlen. Es ist nicht grade erfreulich, daß diese
Richtung in manchen Organen der deutschen Presse Anklang und Nachahmung
gesunden, was man freilich zumeist dem Einfluß der in London für deutsche
Blätter gearbeiteten "Englischen Correspondenz" zuschreiben muß, die indeß
neuerdings von der besprochenen Richtung wieder unabhängiger geworden ist.

Wunderlich, während man in Deutschland sich mit solcher selbstgefällig-


Staat, der über die einfachen Verhältnisse eines kleinen schweizer Cantons
hinausgekommen war, in irgend andrer Weise fortleben könne. Bei den fran¬
zösischen und französisch denkenden Socialisten, die eben keine Freiheit wollten,
und welche noch weniger eine Ahnung von selbstständigen Entwicklungen inner¬
halb des Staats selbst, der Grundbedingung eines gesunden parlamentari¬
schen Seins hatten, war eine solche Abneigung verständlich, ganz gewiß aber
nicht für die ihnen noch nicht zugefallene deutsche Demokratie. Für diese
letztere hat denn auch die Zeit bereits eine Aenderung zum Bessern herbei¬
geführt. Es ist im Grunde leicht genug, einzelne Erscheinungen und Aus¬
wüchse des Parlamentarismus, die man aus dem Ganzen herausgerissen, als
deren Wesen zu behandeln und zu mißhandeln; man imponirt dadurch der
Trägheit derer, die nicht selbst denken können, stellt aber der eignen Urtheils-
fähigkeit ein ziemlich schlechtes Zeugniß aus.

Das gilt denn auch von der allerneuesten Richtung der Kritik englischer
Zustände, wie sie sich in einem großen Theil der deutschen Zeitungspresse kund
gibt. Wer wissen will, wie ein politisches Sodom und Gomorrha aussieht,
der instruire sich darüber in der Polemik deutscher Flüchtlinge in England gegen
England. Sie haben die englische Staatsverwaltung und das englische Par¬
lament unter ihre Loupe genommen und erzählen der Welt, welche Wunder¬
dinge sie dabei wahrnehmen; das kommt aber eben nur, weil sie das Kleine
groß sehen und für das Große gar kein Auge haben. Was ihnen an
Klarheit der Begriffe abgeht, das ersetzen sie durch einen Jargon, der
nicht allenthalben verständlich sein möchte; warum muß es denn »grade als
Schimpf angesehen werden> staatsmännisch, echt constitutionell oder gar re-
spectabel zu sein? Sie lieben England so sehr, daß sie es fortwährend züch¬
tigen, und wenn es dort noch ein Parlament gibt, wenn die Times noch ihre
50,000 Abonnenten zählt, sie sind gewiß nicht daran Schuld. Ihr Haupt¬
vertreter Lothar Bucher, hat ein Buch geschrieben, „Der Parlamentarismus,
wie er ist", eine glänzende Darstellung Englands — wie es nicht ist; er ist
Widersacher des englischen Parlaments, wie es sich im Verlauf der Jahrhun¬
derte herangebildet hat, er bezeichnet diesen Entwicklungsgang nicht undeut¬
lich als Usurpation, > und beschwört statt dieses Parlaments aus dem Staub
der Vergangenheit das altenglische Lommon lan heraus. Man braucht diesen
Gedankengang nur zu bezeichnen, um sofort das vollkommen Unhistorische und
Unberechtigte desselben herauszufühlen. Es ist nicht grade erfreulich, daß diese
Richtung in manchen Organen der deutschen Presse Anklang und Nachahmung
gesunden, was man freilich zumeist dem Einfluß der in London für deutsche
Blätter gearbeiteten „Englischen Correspondenz" zuschreiben muß, die indeß
neuerdings von der besprochenen Richtung wieder unabhängiger geworden ist.

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[0095] Staat, der über die einfachen Verhältnisse eines kleinen schweizer Cantons hinausgekommen war, in irgend andrer Weise fortleben könne. Bei den fran¬ zösischen und französisch denkenden Socialisten, die eben keine Freiheit wollten, und welche noch weniger eine Ahnung von selbstständigen Entwicklungen inner¬ halb des Staats selbst, der Grundbedingung eines gesunden parlamentari¬ schen Seins hatten, war eine solche Abneigung verständlich, ganz gewiß aber nicht für die ihnen noch nicht zugefallene deutsche Demokratie. Für diese letztere hat denn auch die Zeit bereits eine Aenderung zum Bessern herbei¬ geführt. Es ist im Grunde leicht genug, einzelne Erscheinungen und Aus¬ wüchse des Parlamentarismus, die man aus dem Ganzen herausgerissen, als deren Wesen zu behandeln und zu mißhandeln; man imponirt dadurch der Trägheit derer, die nicht selbst denken können, stellt aber der eignen Urtheils- fähigkeit ein ziemlich schlechtes Zeugniß aus. Das gilt denn auch von der allerneuesten Richtung der Kritik englischer Zustände, wie sie sich in einem großen Theil der deutschen Zeitungspresse kund gibt. Wer wissen will, wie ein politisches Sodom und Gomorrha aussieht, der instruire sich darüber in der Polemik deutscher Flüchtlinge in England gegen England. Sie haben die englische Staatsverwaltung und das englische Par¬ lament unter ihre Loupe genommen und erzählen der Welt, welche Wunder¬ dinge sie dabei wahrnehmen; das kommt aber eben nur, weil sie das Kleine groß sehen und für das Große gar kein Auge haben. Was ihnen an Klarheit der Begriffe abgeht, das ersetzen sie durch einen Jargon, der nicht allenthalben verständlich sein möchte; warum muß es denn »grade als Schimpf angesehen werden> staatsmännisch, echt constitutionell oder gar re- spectabel zu sein? Sie lieben England so sehr, daß sie es fortwährend züch¬ tigen, und wenn es dort noch ein Parlament gibt, wenn die Times noch ihre 50,000 Abonnenten zählt, sie sind gewiß nicht daran Schuld. Ihr Haupt¬ vertreter Lothar Bucher, hat ein Buch geschrieben, „Der Parlamentarismus, wie er ist", eine glänzende Darstellung Englands — wie es nicht ist; er ist Widersacher des englischen Parlaments, wie es sich im Verlauf der Jahrhun¬ derte herangebildet hat, er bezeichnet diesen Entwicklungsgang nicht undeut¬ lich als Usurpation, > und beschwört statt dieses Parlaments aus dem Staub der Vergangenheit das altenglische Lommon lan heraus. Man braucht diesen Gedankengang nur zu bezeichnen, um sofort das vollkommen Unhistorische und Unberechtigte desselben herauszufühlen. Es ist nicht grade erfreulich, daß diese Richtung in manchen Organen der deutschen Presse Anklang und Nachahmung gesunden, was man freilich zumeist dem Einfluß der in London für deutsche Blätter gearbeiteten „Englischen Correspondenz" zuschreiben muß, die indeß neuerdings von der besprochenen Richtung wieder unabhängiger geworden ist. Wunderlich, während man in Deutschland sich mit solcher selbstgefällig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/95>, abgerufen am 22.07.2024.