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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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mit je dreihundert Studenten, zusammen 2400 Zöglinge der freien Wissen¬
schaft auf eine zu Universitätsstudien berechtigte Bevölkerung von mindestens
zehn bis zwölf Millionen! So blieb grade demjenigen Adel, welcher auf dem
Grundbesitze ruht, nichts frei und offen, um die gesetzliche Anerkennung seiner
politischen Existenz zu erhalten, als der Soldatendienst.

Freilich wurde dem Adel, außer von der relativ so geringen Zahl der
Söhne der übrigen freien Classen, keine Concurrenz im Staatsdienst, im Be¬
suche höherer Lehranstalten u. s. w. gemacht. Denn für den Leibeigenen
war vollends der geistige Pauperismus von vornherein dictirt. Er blieb auf
die Volksschulen gewiesen, in denen er kaum Lesen. Schreiben und Rechnen
lernte. Nur etwa durch den Soldatendienst, der ihn persönlich frei machte,
konnte er noch ausnahmsweise in eine Selbstbestimmung schlüpfen. Der
unter Alexander 1. noch freie Eintritt des Leibeigenen in den Staatsdienst
wurde dagegen unter Nikolaus principiell verpönt. Die Kinder des persönlich
freigesprochenen Soldaten blieben außerdem Besitztum des Staates, mußten
wieder Soldaten, konnten höchstens Kantonisten werden. Selbst die Han¬
delsschüler blieben dem Sohne des leibeigenen Kaufmanns verschlossen, welcher
selber, wenn auch mit dem großartigsten Geschäftsbetriebe, nicht aus der
untersten Kaufmannsgilde treten konnte, falls ihm sein Herr die Freiheit nicht
gab. Und die Fälle waren keineswegs selten, daß ein Leibherr selbst eine
halbe Million Rubel zurückwies, die ihm als Freiheitspreis geboten wurden.
Dies nicht etwa immer aus despotischer Lust. oder um den reichen Leibeigenen
bequemer brandschatzen zu können -- nein, oftmals blos, um der Eitelkeit
genugzuthun, die sich stolz aus dem Bewußtsein wiegte, über millionenreiche
Sklaven zu herrschen.

Was waren die positiven Gesammtresultate der Emancipationsschritte,
als der letzte, blos von Rückzügelungen bezeichnete Regierungsabschnitt des
Kaisers Nikolaus begann? Die Leibeigenen hatten nur als Gabe der Gnade
wieder erlangt, was bis auf Boris Godunow herab ihr fragloses Com-
munalrecht gewesen war-, den Grundbesitz. Was ihnen bis zu Alexander
vollkommen offen geblieben war. die Möglichkeit geistiger Bildung, die Frei¬
heit der geschäftlichen Bewegung -- es war ihnen jetzt bis auf ein Minimum
entzogen. Womit erst Peter 1. ihr Leben als Marterfessel eingeschnürt, das
Herrenrecht zur vollkommen willkürlichen Verfügung über den einzelnen
Leibeigenen -- das war geblieben. Das einzige Recht, welches dem Leib¬
eigenen durch Nikolaus neu verliehen war. das Recht zum persönlichen Er¬
werbe unbeweglichen Eigenthums, das war wieder in seiner Uebung auf die
Gnade des Herrn gestellt worden.

Unter so bewandten Umständen begann der orientalische Krieg. Trotz
seiner relativ kurzen Dauer und trotz seiner geographischen Beschränkung er-
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mit je dreihundert Studenten, zusammen 2400 Zöglinge der freien Wissen¬
schaft auf eine zu Universitätsstudien berechtigte Bevölkerung von mindestens
zehn bis zwölf Millionen! So blieb grade demjenigen Adel, welcher auf dem
Grundbesitze ruht, nichts frei und offen, um die gesetzliche Anerkennung seiner
politischen Existenz zu erhalten, als der Soldatendienst.

Freilich wurde dem Adel, außer von der relativ so geringen Zahl der
Söhne der übrigen freien Classen, keine Concurrenz im Staatsdienst, im Be¬
suche höherer Lehranstalten u. s. w. gemacht. Denn für den Leibeigenen
war vollends der geistige Pauperismus von vornherein dictirt. Er blieb auf
die Volksschulen gewiesen, in denen er kaum Lesen. Schreiben und Rechnen
lernte. Nur etwa durch den Soldatendienst, der ihn persönlich frei machte,
konnte er noch ausnahmsweise in eine Selbstbestimmung schlüpfen. Der
unter Alexander 1. noch freie Eintritt des Leibeigenen in den Staatsdienst
wurde dagegen unter Nikolaus principiell verpönt. Die Kinder des persönlich
freigesprochenen Soldaten blieben außerdem Besitztum des Staates, mußten
wieder Soldaten, konnten höchstens Kantonisten werden. Selbst die Han¬
delsschüler blieben dem Sohne des leibeigenen Kaufmanns verschlossen, welcher
selber, wenn auch mit dem großartigsten Geschäftsbetriebe, nicht aus der
untersten Kaufmannsgilde treten konnte, falls ihm sein Herr die Freiheit nicht
gab. Und die Fälle waren keineswegs selten, daß ein Leibherr selbst eine
halbe Million Rubel zurückwies, die ihm als Freiheitspreis geboten wurden.
Dies nicht etwa immer aus despotischer Lust. oder um den reichen Leibeigenen
bequemer brandschatzen zu können — nein, oftmals blos, um der Eitelkeit
genugzuthun, die sich stolz aus dem Bewußtsein wiegte, über millionenreiche
Sklaven zu herrschen.

Was waren die positiven Gesammtresultate der Emancipationsschritte,
als der letzte, blos von Rückzügelungen bezeichnete Regierungsabschnitt des
Kaisers Nikolaus begann? Die Leibeigenen hatten nur als Gabe der Gnade
wieder erlangt, was bis auf Boris Godunow herab ihr fragloses Com-
munalrecht gewesen war-, den Grundbesitz. Was ihnen bis zu Alexander
vollkommen offen geblieben war. die Möglichkeit geistiger Bildung, die Frei¬
heit der geschäftlichen Bewegung — es war ihnen jetzt bis auf ein Minimum
entzogen. Womit erst Peter 1. ihr Leben als Marterfessel eingeschnürt, das
Herrenrecht zur vollkommen willkürlichen Verfügung über den einzelnen
Leibeigenen — das war geblieben. Das einzige Recht, welches dem Leib¬
eigenen durch Nikolaus neu verliehen war. das Recht zum persönlichen Er¬
werbe unbeweglichen Eigenthums, das war wieder in seiner Uebung auf die
Gnade des Herrn gestellt worden.

Unter so bewandten Umständen begann der orientalische Krieg. Trotz
seiner relativ kurzen Dauer und trotz seiner geographischen Beschränkung er-
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[0067] mit je dreihundert Studenten, zusammen 2400 Zöglinge der freien Wissen¬ schaft auf eine zu Universitätsstudien berechtigte Bevölkerung von mindestens zehn bis zwölf Millionen! So blieb grade demjenigen Adel, welcher auf dem Grundbesitze ruht, nichts frei und offen, um die gesetzliche Anerkennung seiner politischen Existenz zu erhalten, als der Soldatendienst. Freilich wurde dem Adel, außer von der relativ so geringen Zahl der Söhne der übrigen freien Classen, keine Concurrenz im Staatsdienst, im Be¬ suche höherer Lehranstalten u. s. w. gemacht. Denn für den Leibeigenen war vollends der geistige Pauperismus von vornherein dictirt. Er blieb auf die Volksschulen gewiesen, in denen er kaum Lesen. Schreiben und Rechnen lernte. Nur etwa durch den Soldatendienst, der ihn persönlich frei machte, konnte er noch ausnahmsweise in eine Selbstbestimmung schlüpfen. Der unter Alexander 1. noch freie Eintritt des Leibeigenen in den Staatsdienst wurde dagegen unter Nikolaus principiell verpönt. Die Kinder des persönlich freigesprochenen Soldaten blieben außerdem Besitztum des Staates, mußten wieder Soldaten, konnten höchstens Kantonisten werden. Selbst die Han¬ delsschüler blieben dem Sohne des leibeigenen Kaufmanns verschlossen, welcher selber, wenn auch mit dem großartigsten Geschäftsbetriebe, nicht aus der untersten Kaufmannsgilde treten konnte, falls ihm sein Herr die Freiheit nicht gab. Und die Fälle waren keineswegs selten, daß ein Leibherr selbst eine halbe Million Rubel zurückwies, die ihm als Freiheitspreis geboten wurden. Dies nicht etwa immer aus despotischer Lust. oder um den reichen Leibeigenen bequemer brandschatzen zu können — nein, oftmals blos, um der Eitelkeit genugzuthun, die sich stolz aus dem Bewußtsein wiegte, über millionenreiche Sklaven zu herrschen. Was waren die positiven Gesammtresultate der Emancipationsschritte, als der letzte, blos von Rückzügelungen bezeichnete Regierungsabschnitt des Kaisers Nikolaus begann? Die Leibeigenen hatten nur als Gabe der Gnade wieder erlangt, was bis auf Boris Godunow herab ihr fragloses Com- munalrecht gewesen war-, den Grundbesitz. Was ihnen bis zu Alexander vollkommen offen geblieben war. die Möglichkeit geistiger Bildung, die Frei¬ heit der geschäftlichen Bewegung — es war ihnen jetzt bis auf ein Minimum entzogen. Womit erst Peter 1. ihr Leben als Marterfessel eingeschnürt, das Herrenrecht zur vollkommen willkürlichen Verfügung über den einzelnen Leibeigenen — das war geblieben. Das einzige Recht, welches dem Leib¬ eigenen durch Nikolaus neu verliehen war. das Recht zum persönlichen Er¬ werbe unbeweglichen Eigenthums, das war wieder in seiner Uebung auf die Gnade des Herrn gestellt worden. Unter so bewandten Umständen begann der orientalische Krieg. Trotz seiner relativ kurzen Dauer und trotz seiner geographischen Beschränkung er- ''''' 8*'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/67>, abgerufen am 22.07.2024.