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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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die Mißwachsjahre 1845 und 46 kamen hinzu, außerhalb Rußlands eclatirten
die Vorläufer von 1848 und tönten, wenn auch nur wie dunkle Sachen, in
das Innere des Reiches hinein.

Jetzt endlich entschloß man sich zu einem entschiedenen Vorschritte, wel¬
chen Alexander zwar schon beabsichtigt, aber theils aus Scheu vor dem
Adel, theils infolge der Erkaltung seines Humanitätseifers zurückgestellt
haben soll. Ein Ukas vom 20. November 1847 berechtigte nämlich die leib¬
eigenen Gemeinden, die wegen Ueberschüttung ihrer Leibherrcn zum öffent¬
lichen Verkauf gelangenden Liegenschaften erbeuumthümlich zu erwerben. Es
durfte freilich nur um den "höchsten" beim Verkaufe gebotenen Preis ge¬
schehen, und natürlich traten solche Subhastationen meistens blos in Fällen
ein, wo die Gemeinde vorher bereits gehörig ausgesogen war. wozu ja die
bisherige Gesetzgebung dem Grundherrn Thür und Thor geöffnet hatte.
Dennoch war der Erfolg, daß sofort, wo irgend ein solcher Verkauf stattfand,
die Gemeinde als Käuferin eintrat. Häufig erschien es unbegreiflich, woher
sie das Geld nahm. Erst viel später erfuhr man, daß sich blitzschnell, ohne
alle Regeln, nur durch den Credit der altnationalen Gemeindesolidarität,
unter den Eommunen ländergroßer Provinzen eine Art von gegenseitiger
Assecuranz oder Association sür solche Fälle ausgebildet hatte. Wer das
associatorische Talent der Russen bei ihren Handels- und Gewerbsthätigkeiten
kennt, wird dies freilich weniger auffallend finden. Wo aber zu befahren
war, daß ein reicher oder mißgünstiger Edelherr dem Gemeindekauf mit Ueber¬
geboten entgegentreten werde, da wußten die Bauern wol irgend einen armen
Adeligen aufzufinden, welcher das Gut nominell für sich erwarb, in Wahrheit
dagegen das Kaufgeld und ein Honorar von der Gemeinde erhielt und mit
dieser einen Vertrag abschloß, wodurch dieselbe erbeigenthümliche Herrin ihres
Areals wurde.

Die ungeheure Regsamkeit und die unbegrenzte Mannigfaltigkeit der
Mittel, womit die Gemeinden sich des vom Ukas gewährten Vortheils bemäch¬
tigten, zeugten allerdings laut genug sür die Lebenszähigkeit des so vielseitig
berannten und erschütterten nationalen Gcineindewesens. Eine selbstständige
Erstarkung der Communen wuchs urplötzlich empor, welche man nicht blos
in Petersburg, sondern auch im Grundadel erschrocken erkannte. Man hielt
die Art ihrer jetzigen Entwicklung selbst für weit bedenklicher als die ursprüng¬
liche. Denn diese hatte blos jede einzelne Gemeinde compact erhalten, die
jetzige bahnte dagegen communale Allianzen an, welche nach gehöriger Er¬
starkung der gemeinsamen materiellen Interessen auch einen socialpolitischen
Charakter anzunehmen drohten. Aus verschiedenen Adelschaften selbst erging
darum in dieser Erkenntniß die Anregung zu dem Ukas vom 15. März 1 848,
welcher das Recht des Bodenerwerbes auch aus den einzelnen Leibeigenen


die Mißwachsjahre 1845 und 46 kamen hinzu, außerhalb Rußlands eclatirten
die Vorläufer von 1848 und tönten, wenn auch nur wie dunkle Sachen, in
das Innere des Reiches hinein.

Jetzt endlich entschloß man sich zu einem entschiedenen Vorschritte, wel¬
chen Alexander zwar schon beabsichtigt, aber theils aus Scheu vor dem
Adel, theils infolge der Erkaltung seines Humanitätseifers zurückgestellt
haben soll. Ein Ukas vom 20. November 1847 berechtigte nämlich die leib¬
eigenen Gemeinden, die wegen Ueberschüttung ihrer Leibherrcn zum öffent¬
lichen Verkauf gelangenden Liegenschaften erbeuumthümlich zu erwerben. Es
durfte freilich nur um den „höchsten" beim Verkaufe gebotenen Preis ge¬
schehen, und natürlich traten solche Subhastationen meistens blos in Fällen
ein, wo die Gemeinde vorher bereits gehörig ausgesogen war. wozu ja die
bisherige Gesetzgebung dem Grundherrn Thür und Thor geöffnet hatte.
Dennoch war der Erfolg, daß sofort, wo irgend ein solcher Verkauf stattfand,
die Gemeinde als Käuferin eintrat. Häufig erschien es unbegreiflich, woher
sie das Geld nahm. Erst viel später erfuhr man, daß sich blitzschnell, ohne
alle Regeln, nur durch den Credit der altnationalen Gemeindesolidarität,
unter den Eommunen ländergroßer Provinzen eine Art von gegenseitiger
Assecuranz oder Association sür solche Fälle ausgebildet hatte. Wer das
associatorische Talent der Russen bei ihren Handels- und Gewerbsthätigkeiten
kennt, wird dies freilich weniger auffallend finden. Wo aber zu befahren
war, daß ein reicher oder mißgünstiger Edelherr dem Gemeindekauf mit Ueber¬
geboten entgegentreten werde, da wußten die Bauern wol irgend einen armen
Adeligen aufzufinden, welcher das Gut nominell für sich erwarb, in Wahrheit
dagegen das Kaufgeld und ein Honorar von der Gemeinde erhielt und mit
dieser einen Vertrag abschloß, wodurch dieselbe erbeigenthümliche Herrin ihres
Areals wurde.

Die ungeheure Regsamkeit und die unbegrenzte Mannigfaltigkeit der
Mittel, womit die Gemeinden sich des vom Ukas gewährten Vortheils bemäch¬
tigten, zeugten allerdings laut genug sür die Lebenszähigkeit des so vielseitig
berannten und erschütterten nationalen Gcineindewesens. Eine selbstständige
Erstarkung der Communen wuchs urplötzlich empor, welche man nicht blos
in Petersburg, sondern auch im Grundadel erschrocken erkannte. Man hielt
die Art ihrer jetzigen Entwicklung selbst für weit bedenklicher als die ursprüng¬
liche. Denn diese hatte blos jede einzelne Gemeinde compact erhalten, die
jetzige bahnte dagegen communale Allianzen an, welche nach gehöriger Er¬
starkung der gemeinsamen materiellen Interessen auch einen socialpolitischen
Charakter anzunehmen drohten. Aus verschiedenen Adelschaften selbst erging
darum in dieser Erkenntniß die Anregung zu dem Ukas vom 15. März 1 848,
welcher das Recht des Bodenerwerbes auch aus den einzelnen Leibeigenen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/64>, abgerufen am 22.07.2024.