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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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die Verwalter. Administratoren. Amtsleute, welche dasselbe Geschick betraf,
ganz ungerechnet. Wie barbarisch, roh. thierisch auch die einzelnen Umstände
solcher Tumulte und Morde waren -- ein Gedanke leuchtete überall hervor:
die leibeigne Gemeinde glaubte einen Existenzkampf für ihr innerstes Wesen,
für ihre nationale Communität und communale Solidarität, für den letzten
Schutzwall gegen die Herrenwillkür kämpfen zu müssen. Es herrschte that¬
sächlich durch ganz Rußland derselbe Zustand, welchen ein baltischer Edelherr
in einer Kreisadelsconfcrenz 1843 mit den Worten bezeichnete: "Der Kcnjer
dürfte es heute unsern Bauern nur erlauben, nicht befehlen, uns todt zu
schlagen, so lügen w,r alle morgen ermordet auf den Brandstätten unsrer
Edelhofe."

Man darf nicht vergessen, in welche Zeit diese Zustande sielen. Es war
Zeit, in welcher ein Theil des nationalen Adels in Moskau wieder euren
Sammelpunkt der Opposition gesucht und gefunden hatte, während die modei-
nisirte Aristokratie, während alle bildungsbedürftigen Elemente scharenwelje nach
dem "Auslande" strömten und daheim nur eben wieder lange genug lebten,
">u ihre Privatangelegenheiten zu ordnen und dabei neues Reisegeld anzu¬
sammeln. Dem gegenüber hatte die Regierung zuerst die Giltigkeitsdauer
der "Auslandspässe"'abgekürzt; wer diese Frist dennoch überschritt, ward nut
Vermögensconfiscation bedroht. Ein Jahr nach dem Aprilukas, welcher die
angedeuteten Zustände ins Leben rief, erfolgte ferner jenes s. Z. ,o viel
besprochene Decret. wodurch alle Reisen nach dem Auslande (wenn nicht in
nachgewiesenen kaufmännischen Geschäften oder wegen einer vom Hausarzt
und vom Kreisphysikus bescheinigten Krankheit) gänzlich untersagt, auch selbst
in diesem Falle mit einer enormen Paßsteuer belegt und Personen beiderlei
Geschlechts zwischen dem achtzehnten und fünfundzwanzigsten Jahre vollkommen
verschlossen wurden. Gleichzeitig erklärte die Negierung ihr tiefstes Mißfallen
an den Auslandsreisen überhaupt, (sogar an den Gesundheitsreisen, indem
sie die Heilquellen in den baltischen Gouvernements, am Kaukasus u. s. w.
anpreisen ließ) bezeichnete also jeden als mißliebig, der sie dennoch unter,
nahm. Dies alles zusammengenommen kam unter russischen Verhältnissen
einer wirklichen Jntemirung der vornehmeren und wohlhabenden, der ganzen
nicht leibeigenen Bevölkerung gleich. Gleichzeitig verarmten namentlich die
kleineren Gutsbesitzer durch die Unfreiheit in ihrer Eigenthumsverfügung und
die immer höher gesteigerten Zerwürfnisse mit den Leibeigenen. Die Regie¬
rung selber erkannte, daß es rascher und energischer Beschwichtigungsmiltel
bedürfe, wenn nicht die sociale Revolution zu einer Allgemeinheit und Stärke
gedeihen sollte, gegen welche sogar dem Staate die Bändignngskräfte ent¬
gingen. Mehre Ükase, welche den von 1S42 ergänzen sollten, erwiesen sich
Praktisch vollkommen wirkungslos. Die sociale Gährung flieg immer höher,


die Verwalter. Administratoren. Amtsleute, welche dasselbe Geschick betraf,
ganz ungerechnet. Wie barbarisch, roh. thierisch auch die einzelnen Umstände
solcher Tumulte und Morde waren — ein Gedanke leuchtete überall hervor:
die leibeigne Gemeinde glaubte einen Existenzkampf für ihr innerstes Wesen,
für ihre nationale Communität und communale Solidarität, für den letzten
Schutzwall gegen die Herrenwillkür kämpfen zu müssen. Es herrschte that¬
sächlich durch ganz Rußland derselbe Zustand, welchen ein baltischer Edelherr
in einer Kreisadelsconfcrenz 1843 mit den Worten bezeichnete: „Der Kcnjer
dürfte es heute unsern Bauern nur erlauben, nicht befehlen, uns todt zu
schlagen, so lügen w,r alle morgen ermordet auf den Brandstätten unsrer
Edelhofe."

Man darf nicht vergessen, in welche Zeit diese Zustande sielen. Es war
Zeit, in welcher ein Theil des nationalen Adels in Moskau wieder euren
Sammelpunkt der Opposition gesucht und gefunden hatte, während die modei-
nisirte Aristokratie, während alle bildungsbedürftigen Elemente scharenwelje nach
dem „Auslande" strömten und daheim nur eben wieder lange genug lebten,
">u ihre Privatangelegenheiten zu ordnen und dabei neues Reisegeld anzu¬
sammeln. Dem gegenüber hatte die Regierung zuerst die Giltigkeitsdauer
der „Auslandspässe"'abgekürzt; wer diese Frist dennoch überschritt, ward nut
Vermögensconfiscation bedroht. Ein Jahr nach dem Aprilukas, welcher die
angedeuteten Zustände ins Leben rief, erfolgte ferner jenes s. Z. ,o viel
besprochene Decret. wodurch alle Reisen nach dem Auslande (wenn nicht in
nachgewiesenen kaufmännischen Geschäften oder wegen einer vom Hausarzt
und vom Kreisphysikus bescheinigten Krankheit) gänzlich untersagt, auch selbst
in diesem Falle mit einer enormen Paßsteuer belegt und Personen beiderlei
Geschlechts zwischen dem achtzehnten und fünfundzwanzigsten Jahre vollkommen
verschlossen wurden. Gleichzeitig erklärte die Negierung ihr tiefstes Mißfallen
an den Auslandsreisen überhaupt, (sogar an den Gesundheitsreisen, indem
sie die Heilquellen in den baltischen Gouvernements, am Kaukasus u. s. w.
anpreisen ließ) bezeichnete also jeden als mißliebig, der sie dennoch unter,
nahm. Dies alles zusammengenommen kam unter russischen Verhältnissen
einer wirklichen Jntemirung der vornehmeren und wohlhabenden, der ganzen
nicht leibeigenen Bevölkerung gleich. Gleichzeitig verarmten namentlich die
kleineren Gutsbesitzer durch die Unfreiheit in ihrer Eigenthumsverfügung und
die immer höher gesteigerten Zerwürfnisse mit den Leibeigenen. Die Regie¬
rung selber erkannte, daß es rascher und energischer Beschwichtigungsmiltel
bedürfe, wenn nicht die sociale Revolution zu einer Allgemeinheit und Stärke
gedeihen sollte, gegen welche sogar dem Staate die Bändignngskräfte ent¬
gingen. Mehre Ükase, welche den von 1S42 ergänzen sollten, erwiesen sich
Praktisch vollkommen wirkungslos. Die sociale Gährung flieg immer höher,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/63>, abgerufen am 25.08.2024.