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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Ausprägung gleichermaßen bedenklichen Stimmungen und Geistcsströmungen
ließen sich criminaliter natürlich nur verfolgen, wenn sie mit Thatsachen hervor¬
traten- Decrete oder Ukase dagegen hätten ihnen sell'se eine gewisse unlieb¬
same Wichtigkeit beigelegt, während trotzdem die Sympathien der großen
Volksmassen für das Petersburger Zarcnthum nicht verstärkt worden wären.
Die politischen Resormgedanken lebten aber überhaupt nur in den höhern
Classen; die sektirerischen Bewegungen haben ebenfalls ihre Hauptsitze
in den städtischen Bevölkerungen und in gewissermaßen abgeschlossenen Be¬
standtheilen des Landvolkes, ragen also im Allgemeinen in die Massen der
Leibeignen wenig hinein. Unter solchen Umständen mußte nun jede Erleichterung
der Leibeigenschnftsverhältnisse dem eigentlichen Zarenprincip, oder vielmehr
dem Zaren persönlich, ungemein zahlreiche Massen in unbedingter Ergebenheit
zuwenden, zugleich den Zwiespalt zwischen den Eigcnhörigen und Leibherrn
wiederum schroffer gestalten.

Der erste Negierungsact unter Kaiser Nikolaus war nun nicht etwa die
Herstellung eines neuen Verhältnisses. Nein, er frischte gewissermaßen blos
den Ukas Alexanders 1. vom 20. Febr. 1 803 wieder auf. Und zwar nament¬
lich das halb vergessene, halb durch Umgehungen elndirte Verbot des Verkaufs
der Leibeignen ohne den zu ihnen gehörigen Grund und Boden. -- Etwas später
ward dann aber jene nationalökonomische Reform beliebt, wonach der bisher
von oben her unberücksichtigte Ackerbau plötzlich wieder an die Stelle der künst¬
lich emporgepflegten und dennoch nicht prosperirenden (staatsökonomisch un-
vortheilhaften) Industrie treten sollte. Wie fand diese volkswirthschaftliche
Halbrevolution die Bevölkerung? Die Gutsbesitzer, der agricultorischen Richtung
mehr oder minder entfremdet, sahen sich plötzlich in ihren industriellen Unter¬
nehmungen ohne Unterstützung und standen einem vielfach gelockerten Gemeinde¬
wesen gegenüber. Die zahllosen Scharen der auf Obrok Entlassener kehrten
plötzlich aus den Städten zurück, an deren Leben gewöhnt, dem Ackerbau ent¬
wöhnt, den Gemeinden entfremdet, deren Bodcneultur nicht mehr auf die Er¬
nährung so großer Massen berechnet war. Denn wenn auch das Terrain der
Gutsherrlichkcit um keine Dessätine kleiner geworden war. so doch das Areal
der Gemeindenutzung. Fast überall mußte folglich ein locales Mißverhältniß
zwischen der leibeignen Bevölkerung und dem ihr zuständigen Boden eintreten.
Ein ländliches Proletariat wucherte also daraus hervor. Was war nun na¬
türlicher, als daß die Grundherrn sich des Ueberflusses an Menschen, für deren
Ernährung sie eventuell sorgen müssen, auf jede Weise zu entledigen suchten?
Sich derselben ohne zureichenden Grund und Boden zu entäußern, war un¬
möglich gemacht; die Freilassung hieß Capitale zum Fenster hinauswerfen und
hob dennoch die Verpflichtung nicht auf, eventuell den Freigelassenen zu er¬
halten, wenn man ihm die Scholle nicht mitgeschenkt hatte; an das Militär


Ausprägung gleichermaßen bedenklichen Stimmungen und Geistcsströmungen
ließen sich criminaliter natürlich nur verfolgen, wenn sie mit Thatsachen hervor¬
traten- Decrete oder Ukase dagegen hätten ihnen sell'se eine gewisse unlieb¬
same Wichtigkeit beigelegt, während trotzdem die Sympathien der großen
Volksmassen für das Petersburger Zarcnthum nicht verstärkt worden wären.
Die politischen Resormgedanken lebten aber überhaupt nur in den höhern
Classen; die sektirerischen Bewegungen haben ebenfalls ihre Hauptsitze
in den städtischen Bevölkerungen und in gewissermaßen abgeschlossenen Be¬
standtheilen des Landvolkes, ragen also im Allgemeinen in die Massen der
Leibeignen wenig hinein. Unter solchen Umständen mußte nun jede Erleichterung
der Leibeigenschnftsverhältnisse dem eigentlichen Zarenprincip, oder vielmehr
dem Zaren persönlich, ungemein zahlreiche Massen in unbedingter Ergebenheit
zuwenden, zugleich den Zwiespalt zwischen den Eigcnhörigen und Leibherrn
wiederum schroffer gestalten.

Der erste Negierungsact unter Kaiser Nikolaus war nun nicht etwa die
Herstellung eines neuen Verhältnisses. Nein, er frischte gewissermaßen blos
den Ukas Alexanders 1. vom 20. Febr. 1 803 wieder auf. Und zwar nament¬
lich das halb vergessene, halb durch Umgehungen elndirte Verbot des Verkaufs
der Leibeignen ohne den zu ihnen gehörigen Grund und Boden. — Etwas später
ward dann aber jene nationalökonomische Reform beliebt, wonach der bisher
von oben her unberücksichtigte Ackerbau plötzlich wieder an die Stelle der künst¬
lich emporgepflegten und dennoch nicht prosperirenden (staatsökonomisch un-
vortheilhaften) Industrie treten sollte. Wie fand diese volkswirthschaftliche
Halbrevolution die Bevölkerung? Die Gutsbesitzer, der agricultorischen Richtung
mehr oder minder entfremdet, sahen sich plötzlich in ihren industriellen Unter¬
nehmungen ohne Unterstützung und standen einem vielfach gelockerten Gemeinde¬
wesen gegenüber. Die zahllosen Scharen der auf Obrok Entlassener kehrten
plötzlich aus den Städten zurück, an deren Leben gewöhnt, dem Ackerbau ent¬
wöhnt, den Gemeinden entfremdet, deren Bodcneultur nicht mehr auf die Er¬
nährung so großer Massen berechnet war. Denn wenn auch das Terrain der
Gutsherrlichkcit um keine Dessätine kleiner geworden war. so doch das Areal
der Gemeindenutzung. Fast überall mußte folglich ein locales Mißverhältniß
zwischen der leibeignen Bevölkerung und dem ihr zuständigen Boden eintreten.
Ein ländliches Proletariat wucherte also daraus hervor. Was war nun na¬
türlicher, als daß die Grundherrn sich des Ueberflusses an Menschen, für deren
Ernährung sie eventuell sorgen müssen, auf jede Weise zu entledigen suchten?
Sich derselben ohne zureichenden Grund und Boden zu entäußern, war un¬
möglich gemacht; die Freilassung hieß Capitale zum Fenster hinauswerfen und
hob dennoch die Verpflichtung nicht auf, eventuell den Freigelassenen zu er¬
halten, wenn man ihm die Scholle nicht mitgeschenkt hatte; an das Militär


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/60>, abgerufen am 22.07.2024.