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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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hat. Dieser Antheil muß natürlich bei immer neuem Nachwachs und Ab¬
sterben der Gemeindeglieder fortwährend wechseln. Aber dabei fragt es sich
nicht etwa um jeden einzelnen Geburth- oder Sterbfall; sondern nur insofern
und erst dann, wenn dadurch ein neuer Haushalt begründet wird oder ein solcher
wegfällt. Die Ungleichheit immobilem Vermögens Einzelner ist nicht möglich,
es ist dafür gar kein Erbrecht vorhanden. Wald und Wasser, Jagd und
Fischerei blieben außerdem vollständig unabgegrenzt. die Felder und Wiesen wur¬
den dagegen nach der Zahl selbstständiger Haushalte immer wieder gleichmäßig
vertheilt. Die nationalrussische Gemeinde ist die erweiterte Familie, darum ihr
inneres Regiment rein patriarchalisch. Ein Oberhaupt wird von ihr gewählt
und ihm ein Rath der Alten zur Seite gestellt, während jedes selbstständige Ge-
meindeglted eine Stimme in den Communalangelcgenhciten hat. Die Gemeinde¬
versammlungen vertheilen das Land und die Steuern, der Rath der Alten
mit dem Oberhaupt hat die Verwaltung. Diese Negierung übt eine sehr wert
gehende Disciplinargewalt über die Einzelnen, allein nicht die geringste über
die Gemeinde, welche etwaigen Uebergriffen ihrer Vorsteher sofort durch Ab¬
setzung derselben begegnen kann. Klar ists also, daß die russischen Gemein¬
den in sich selbst vollkommen ausgebildete Socialrepubliken sind, deren
Widerstandskraft nach oben auch dann noch vorkommenden Falls sehr be¬
deutend blieb, als ihre Mitglieder sämmtlich leibeigen geworden waren.
Denn dies berührte den Lebensnerv ihres ursprünglichen Organismus nicht.
Erst als die Entlassung auf Obrock einerseits, anderseits die Hereindrängung
freigelassener Elemente begann, erschütterte sich ihr materieller Bau.

Alexanders Ukas von 1803 untergrub nun seine Grundfesten vollends.
Denn die gänzliche Loslösung der im Heer- ober Staatsdienst Freigewordenen
von ihrer Gebursheimctth unterwarf natürlich die Vevöikerungsverhältnisse
aller Gemeinden ganz unberechenbaren Schwankungen. Ebenso ihr zu be¬
nutzendes Areal, da der mit seinem Bodcnanthnl vom Grundherrn Frei¬
gelassene diesen Besitz erblich erwerben durfte. Und um dem Werte der Zer¬
störung des nationalen Gememdelcbens die Krone auszusetzen, hatte eben
blos jene -- freilich anderseits vollkommen humane -- Anordnung gefehlt,
daß der Grundherr keinen Leibeigenen ohne den ihm angewiesenen Grund
und Boden verknusen, verschenken, vertauschen darf, ohne daß doch der
parcellirenden Entaußerungsfreiheit eine Grenze gesetzt ward. Dazu kamen
überdies die unzähligen Umgehungen dieser Gesetze, welche an sich schon zu
spät gekommen waren, da bei Alexanders Regierungsantritt bereits wieder
dieselbe Ungleichmähigteit in der geographischen Vertheilung der leibeigenen
Bevölkerung herrschte, welcher vor 200 Jahren Boris Godunow durch das
rohe Mittel der Fesselung des Leibeigenen an die Scholle hatte begegnen
wollen. Endlich aber boten Alexanders llkasc für die Hauptfrage, für die


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hat. Dieser Antheil muß natürlich bei immer neuem Nachwachs und Ab¬
sterben der Gemeindeglieder fortwährend wechseln. Aber dabei fragt es sich
nicht etwa um jeden einzelnen Geburth- oder Sterbfall; sondern nur insofern
und erst dann, wenn dadurch ein neuer Haushalt begründet wird oder ein solcher
wegfällt. Die Ungleichheit immobilem Vermögens Einzelner ist nicht möglich,
es ist dafür gar kein Erbrecht vorhanden. Wald und Wasser, Jagd und
Fischerei blieben außerdem vollständig unabgegrenzt. die Felder und Wiesen wur¬
den dagegen nach der Zahl selbstständiger Haushalte immer wieder gleichmäßig
vertheilt. Die nationalrussische Gemeinde ist die erweiterte Familie, darum ihr
inneres Regiment rein patriarchalisch. Ein Oberhaupt wird von ihr gewählt
und ihm ein Rath der Alten zur Seite gestellt, während jedes selbstständige Ge-
meindeglted eine Stimme in den Communalangelcgenhciten hat. Die Gemeinde¬
versammlungen vertheilen das Land und die Steuern, der Rath der Alten
mit dem Oberhaupt hat die Verwaltung. Diese Negierung übt eine sehr wert
gehende Disciplinargewalt über die Einzelnen, allein nicht die geringste über
die Gemeinde, welche etwaigen Uebergriffen ihrer Vorsteher sofort durch Ab¬
setzung derselben begegnen kann. Klar ists also, daß die russischen Gemein¬
den in sich selbst vollkommen ausgebildete Socialrepubliken sind, deren
Widerstandskraft nach oben auch dann noch vorkommenden Falls sehr be¬
deutend blieb, als ihre Mitglieder sämmtlich leibeigen geworden waren.
Denn dies berührte den Lebensnerv ihres ursprünglichen Organismus nicht.
Erst als die Entlassung auf Obrock einerseits, anderseits die Hereindrängung
freigelassener Elemente begann, erschütterte sich ihr materieller Bau.

Alexanders Ukas von 1803 untergrub nun seine Grundfesten vollends.
Denn die gänzliche Loslösung der im Heer- ober Staatsdienst Freigewordenen
von ihrer Gebursheimctth unterwarf natürlich die Vevöikerungsverhältnisse
aller Gemeinden ganz unberechenbaren Schwankungen. Ebenso ihr zu be¬
nutzendes Areal, da der mit seinem Bodcnanthnl vom Grundherrn Frei¬
gelassene diesen Besitz erblich erwerben durfte. Und um dem Werte der Zer¬
störung des nationalen Gememdelcbens die Krone auszusetzen, hatte eben
blos jene — freilich anderseits vollkommen humane — Anordnung gefehlt,
daß der Grundherr keinen Leibeigenen ohne den ihm angewiesenen Grund
und Boden verknusen, verschenken, vertauschen darf, ohne daß doch der
parcellirenden Entaußerungsfreiheit eine Grenze gesetzt ward. Dazu kamen
überdies die unzähligen Umgehungen dieser Gesetze, welche an sich schon zu
spät gekommen waren, da bei Alexanders Regierungsantritt bereits wieder
dieselbe Ungleichmähigteit in der geographischen Vertheilung der leibeigenen
Bevölkerung herrschte, welcher vor 200 Jahren Boris Godunow durch das
rohe Mittel der Fesselung des Leibeigenen an die Scholle hatte begegnen
wollen. Endlich aber boten Alexanders llkasc für die Hauptfrage, für die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/57>, abgerufen am 22.07.2024.