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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Leibherrn und Eigenhörigen. Allein im Ganzen herrschte kein bestimmtes
Princip, noch weniger eine sich ihres Ziels bewußte Energie. Kurz die An¬
läufe blieben Schlägt in das Wasser, wirkungslos beim Adel, wie beim Volk.
Hatte aber wenigstens eine gewisse liberalisirende oder humanistische Strömung
unter Katharina auf den Grundadel eingewirkt, so war dagegen die kurze
Regierungsepoche Pauls lang genug, um selbst jede Erinnerung daran ver¬
schwinden zulassen, während alle gesetzlichen Erleichterungen des Leibeigen¬
schaftsverhältnisses ausdrücklich wieder aufgehoben wurden.

Alexander 1. bestieg 1801 den Thron. Der Mas vom 20. Feb. 1803
schien wirklich eine sociale Reform, eine allmälige Aufhebung der Leibeigen¬
schaft vorbereiten zu sollen. Denn die durch Staats- oder Militärdienst
Freigewordenen sollten sich ankaufen können, wo sie wollten; die freigelassenen
Privatbauern, denen ihr Herr das ihnen von der Gemeinde zugetheilte Areal
überließ, sollten dasselbe erblich erwerben können; Leibeigne sollten von den
Leibherrn fürderhin ohne den Grund und Boden, worauf sie angeschrieben,
nicht verkauft werden dürfen. Es ist hier nicht zu untersuchen, inwiefern
dieser Ukas dazu bestimmt war, den Argwohn der altrussischen Adelspartei
gegen das neue, der Ausländerei bezüchtigte Regiment zu beschwichtigen.
Genug, derselbe bildet das erste wirkliche Glied in der Reihe derjenigen Ma߬
regeln, mit denen die Negierung aus dem socialen Chaos herauszukommen
suchte, welches hauptsächlich durch ihre Schuld in das Verhältniß zwischen
Grundherrn und Lauern gebracht worden war. Allerdings beschränkte es
einigermaßen die vollkommene Willkür der Leibherren, andererseits zerstörte
es aber die nationale Gemeinde nur noch mehr, nachdem diese sich, trotz
aller bisherigen Angriffe, im Großen und Ganzen, namentlich in den Acker-
baudistricten und in den (großentheils industriellen) Hauptwohnsitzen der
Starowertzen aufrecht erhalten hatte.

Dies ist wenigstens mit einigen Worten zu erläutern, wobei zugleich
denjenigen, welchen Wesen und Einrichtung der nationalrussischen Gemeinde
nicht geläufig ist, klarer werden wird, in welcher Weise die bisherigen socialen
Bewegungen seit Einführung der Leibeigenschaft gewirkt haben mußten.
Die nationnlrussische Gemeindeverfassung ist aus jener Auffassung hervor-
gegangen, wonach die Erde und der daraus hervorgewnchsene Mensch untrenn¬
bar sind, wie die Pflanze und ihr Wurzelboden. Ohne Frage nach einen
fictiven, gleichsam ursprünglichen Grundherrn, welchem etwa die Boden¬
nutzung durch persönliche Leistungen gleichsam abgezahlt werden müßte --
ohne diese Voraussetzung ernährt sich die Gemeinde aus diesem Boden. Dem¬
zufolge erscheint die gesammte communale Bevölkerung als Einheit, deren
Individualitäten nur so weit zur Erscheinung kommen, als jede einen gleichen
Antheil an allen Nutznießungen, aber natürlich auch an allen Verpflichtungen


Leibherrn und Eigenhörigen. Allein im Ganzen herrschte kein bestimmtes
Princip, noch weniger eine sich ihres Ziels bewußte Energie. Kurz die An¬
läufe blieben Schlägt in das Wasser, wirkungslos beim Adel, wie beim Volk.
Hatte aber wenigstens eine gewisse liberalisirende oder humanistische Strömung
unter Katharina auf den Grundadel eingewirkt, so war dagegen die kurze
Regierungsepoche Pauls lang genug, um selbst jede Erinnerung daran ver¬
schwinden zulassen, während alle gesetzlichen Erleichterungen des Leibeigen¬
schaftsverhältnisses ausdrücklich wieder aufgehoben wurden.

Alexander 1. bestieg 1801 den Thron. Der Mas vom 20. Feb. 1803
schien wirklich eine sociale Reform, eine allmälige Aufhebung der Leibeigen¬
schaft vorbereiten zu sollen. Denn die durch Staats- oder Militärdienst
Freigewordenen sollten sich ankaufen können, wo sie wollten; die freigelassenen
Privatbauern, denen ihr Herr das ihnen von der Gemeinde zugetheilte Areal
überließ, sollten dasselbe erblich erwerben können; Leibeigne sollten von den
Leibherrn fürderhin ohne den Grund und Boden, worauf sie angeschrieben,
nicht verkauft werden dürfen. Es ist hier nicht zu untersuchen, inwiefern
dieser Ukas dazu bestimmt war, den Argwohn der altrussischen Adelspartei
gegen das neue, der Ausländerei bezüchtigte Regiment zu beschwichtigen.
Genug, derselbe bildet das erste wirkliche Glied in der Reihe derjenigen Ma߬
regeln, mit denen die Negierung aus dem socialen Chaos herauszukommen
suchte, welches hauptsächlich durch ihre Schuld in das Verhältniß zwischen
Grundherrn und Lauern gebracht worden war. Allerdings beschränkte es
einigermaßen die vollkommene Willkür der Leibherren, andererseits zerstörte
es aber die nationale Gemeinde nur noch mehr, nachdem diese sich, trotz
aller bisherigen Angriffe, im Großen und Ganzen, namentlich in den Acker-
baudistricten und in den (großentheils industriellen) Hauptwohnsitzen der
Starowertzen aufrecht erhalten hatte.

Dies ist wenigstens mit einigen Worten zu erläutern, wobei zugleich
denjenigen, welchen Wesen und Einrichtung der nationalrussischen Gemeinde
nicht geläufig ist, klarer werden wird, in welcher Weise die bisherigen socialen
Bewegungen seit Einführung der Leibeigenschaft gewirkt haben mußten.
Die nationnlrussische Gemeindeverfassung ist aus jener Auffassung hervor-
gegangen, wonach die Erde und der daraus hervorgewnchsene Mensch untrenn¬
bar sind, wie die Pflanze und ihr Wurzelboden. Ohne Frage nach einen
fictiven, gleichsam ursprünglichen Grundherrn, welchem etwa die Boden¬
nutzung durch persönliche Leistungen gleichsam abgezahlt werden müßte —
ohne diese Voraussetzung ernährt sich die Gemeinde aus diesem Boden. Dem¬
zufolge erscheint die gesammte communale Bevölkerung als Einheit, deren
Individualitäten nur so weit zur Erscheinung kommen, als jede einen gleichen
Antheil an allen Nutznießungen, aber natürlich auch an allen Verpflichtungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/56>, abgerufen am 22.07.2024.