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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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ah rung bei einer bildungsfähigen Natur die Ansicht nicht erheblich modificirt
hätte; der Wähler soll nach den gegenwärtigen Ueberzeugungen fragen und
die Vergangenheit nur insofern zu Rathe ziehen, als sie Bürgschaft für den
Charakter gibt. Denn das brauchen wir vor.allen Dingen: Männer, die im
Stande sind, der augenblicklichen Zeitströmung zu widerstehen, die ihre persön¬
lichen Interessen den allgemeinen nachsetzen und die den Muth haben, wo es
darauf ankommt, unnöthige Rücksichten bei Seite zu setzen. Freilich darf die
Einsicht nicht fehlen, und der Abgeordnete hat vor allen Dingen sich über,
die wirkliche Aufgabe der Körperschaft, zu der er gehört, klar zu machen.

Unter den bisherigen Fractionen der Opposition hat die eine seit ihrem
Bestehen bis auf die letzten Tage als charakteristisches Glaubensbekenntniß fest¬
gehalten, daß Preußen zwar ein constitutioneller Staat, aber kein parlamen¬
tarisch regierter sein dürfe; mit andern Worten, daß die Praxis der übrigen
konstitutionellen Länder, nach welchen die Krone aus der Majorität der zwei¬
ten Kammer d.as Ministerium zu constituiren hat, auf Preußen keine Anwen¬
dung finde. Eine andere Fraction, die uns näher steht, hat dagegen scharf
polcmisirt. Wir glauben, daß der Streit, so formulirt. ein müßiger ist, daß
ihm aber eine ernste Frage, ja die Kernfrage unserer Entwicklung zu Grunde
liegt.

Wenn man diejenige Regierung eine parlamentarische nennen darf, welche
in den Kammern die Majorität hat, /o ist das Ministerium Manteufel seit
drei Jahren ein unbedingt parlamentarisches, seit neun Jahren ein annähe¬
rungsweise parlamentarisches; ein ebenso parlamentarisches als die jetzige Re¬
gierung Englands. In den drei letzten Jahren verfügte es über eine Phalanx,
die ihm principiell anhängt und die eine ganz überwiegende Majorität hat;
früher war freilich die Majorität nicht principiell auf seiner Seite, aber das
Centrum fand doch für gut, aus alle Fragen, aus denen das Ministerium
eine "Cabinetsfrage" machte (um doch die Terminologie beizubehalten), die
Opposition aufzugeben. Inzwischen würde niemand verwunderter sein, wenn
man dieses Ministerium ein parlamentarisches nennen wollte, als das Mini¬
sterium selbst. Die Sache hat folgende praktische Bedeutung.

Unter den Liberalen gibt es namentlich seit einem Jahr viele, die als
Aufgabe der Opposition betrachten, eine dynastische zu sein, d. h. der Krone
eine Reihe von Staatsmännern zur Verfügung zu stellen, welche, wenn sie
ihrer bisherigen Diener müde wäre, sich bereit halten, deren Stelle zu über¬
nehmen. Dem Anschein nach hat diese Betrachtungsweise viel Verführerisches;
ein liberales Ministerium wäre ein viel größerer Sieg der liberalen Sache als
ein liberaler Landtag gegen ein reactionäres Ministerium. Aber dieser Schein
verliert sich bei näherem Zusehen. Um in diesem Sinn dynastisch zu sein,
müßte die Opposition bei dem Entschluß über ihr Verhalten eine unbekannte


ah rung bei einer bildungsfähigen Natur die Ansicht nicht erheblich modificirt
hätte; der Wähler soll nach den gegenwärtigen Ueberzeugungen fragen und
die Vergangenheit nur insofern zu Rathe ziehen, als sie Bürgschaft für den
Charakter gibt. Denn das brauchen wir vor.allen Dingen: Männer, die im
Stande sind, der augenblicklichen Zeitströmung zu widerstehen, die ihre persön¬
lichen Interessen den allgemeinen nachsetzen und die den Muth haben, wo es
darauf ankommt, unnöthige Rücksichten bei Seite zu setzen. Freilich darf die
Einsicht nicht fehlen, und der Abgeordnete hat vor allen Dingen sich über,
die wirkliche Aufgabe der Körperschaft, zu der er gehört, klar zu machen.

Unter den bisherigen Fractionen der Opposition hat die eine seit ihrem
Bestehen bis auf die letzten Tage als charakteristisches Glaubensbekenntniß fest¬
gehalten, daß Preußen zwar ein constitutioneller Staat, aber kein parlamen¬
tarisch regierter sein dürfe; mit andern Worten, daß die Praxis der übrigen
konstitutionellen Länder, nach welchen die Krone aus der Majorität der zwei¬
ten Kammer d.as Ministerium zu constituiren hat, auf Preußen keine Anwen¬
dung finde. Eine andere Fraction, die uns näher steht, hat dagegen scharf
polcmisirt. Wir glauben, daß der Streit, so formulirt. ein müßiger ist, daß
ihm aber eine ernste Frage, ja die Kernfrage unserer Entwicklung zu Grunde
liegt.

Wenn man diejenige Regierung eine parlamentarische nennen darf, welche
in den Kammern die Majorität hat, /o ist das Ministerium Manteufel seit
drei Jahren ein unbedingt parlamentarisches, seit neun Jahren ein annähe¬
rungsweise parlamentarisches; ein ebenso parlamentarisches als die jetzige Re¬
gierung Englands. In den drei letzten Jahren verfügte es über eine Phalanx,
die ihm principiell anhängt und die eine ganz überwiegende Majorität hat;
früher war freilich die Majorität nicht principiell auf seiner Seite, aber das
Centrum fand doch für gut, aus alle Fragen, aus denen das Ministerium
eine „Cabinetsfrage" machte (um doch die Terminologie beizubehalten), die
Opposition aufzugeben. Inzwischen würde niemand verwunderter sein, wenn
man dieses Ministerium ein parlamentarisches nennen wollte, als das Mini¬
sterium selbst. Die Sache hat folgende praktische Bedeutung.

Unter den Liberalen gibt es namentlich seit einem Jahr viele, die als
Aufgabe der Opposition betrachten, eine dynastische zu sein, d. h. der Krone
eine Reihe von Staatsmännern zur Verfügung zu stellen, welche, wenn sie
ihrer bisherigen Diener müde wäre, sich bereit halten, deren Stelle zu über¬
nehmen. Dem Anschein nach hat diese Betrachtungsweise viel Verführerisches;
ein liberales Ministerium wäre ein viel größerer Sieg der liberalen Sache als
ein liberaler Landtag gegen ein reactionäres Ministerium. Aber dieser Schein
verliert sich bei näherem Zusehen. Um in diesem Sinn dynastisch zu sein,
müßte die Opposition bei dem Entschluß über ihr Verhalten eine unbekannte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/492>, abgerufen am 23.07.2024.