Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

meinte Selbstständigkeit des Stilgefühls und die Autorität ihrer Hypothesen
zu gefährden. Seitdem das Stilgefühl eine viel größere Zahl von eigenthüm¬
lichen Kunstweisen beachten muß. verschmäht es die Hilfe der äußeren Bilder¬
geschichte nicht und läßt sich, indem es die Schicksale eines Bildes zurückver¬
folgt, den ursprünglichen Standort, die Spuren des Bestellers u. s. w. auf¬
sucht, in seinen Vermuthungen leiten, findet mindestens an den Resultaten
dieser Forschung eine stetige Correctur seiner subjectiven Aufstellungen. Wir
verdanken dieser combinatorischem Methode die meisten Fortschritte in der Ge¬
schichte der Malerei. Zu den durch innere und äußere Merkmale sicher be¬
glaubigten Bildern, die stets die wesentliche Grundlage der kunsthistorischen
Schilderung abgeben, tritt nun eine zweite Kategorie von Werken, deren äußere
Geschichte zu bestimmten Vermuthungen über ihren Ursprung führt, welche
dann auch durch das Stilgefühl bestätigt werden. Diese beiden Kategorien
bilden das eigentliche Material der Kunstgeschichte. Die dritte Reihe von
Gemälden, deren kunsthistorische Feststellung ausschließlich dem Stilgefühl über¬
lassen werden muß, beachtet die Wissenschaft nur so weit, als sich in dem¬
selben die Richtung und der Charakter einer Schule offenbart. Für die Kunst¬
geschichte bleiben sie bloße Schulbilder, mögen auch Kunsthändler, Besitzer
von Bildersammlungen und die Anfertiger von Galeriekatologen denselben
individuelle Namen beilegen. Das Recht, solches zuthun, wird diesen Män¬
nern niemand abstreiten, nur müssen sie wieder so billig sein und ihren Offen¬
barungen nicht den Werth wissenschaftlicher Erkenntniß beilegen wollen. Mühselig
hat die Kunstgeschichte erst in den letzten Jahren den subjectiven Standpunkt
überwunden; wir würden zu diesem zurückkehren und den willkürlichen Mei¬
nungen und Irrthümern wieder Thüre und Angel öffnen, wollten wir das
Stilgefühl als selbstständige Erkenntnißquelle ohne weitere Vorsicht gelten
lassen. Freilich besitzen wir den Trost, daß viel öfter noch der Künstler, der
ein Bild geschaffen, richtig bezeichnet wird, als der Gegenstand der Darstellung.
Das jüngste und nicht das schlechteste Beispiel eines solchen Irrthums ist das
berühmte Addisonporträt im Holland House. Macaulay hat aus den Zügen
des Bildes auf den Charakter des Mannes geistreiche Rückschlüsse gethan,
Westmacott das Bildnis, in seiner Statue Addisons im Poetenwinkel repro-
ducirt, und nun -- zeigt es sich, daß es Sir Andrew Fountaine, einen ehren¬
werthen, ja bedeutenden Mann, aber eben nicht Addison vorstellt. Doch
solcher Trost macht die Sache nicht besser; empfehlenswert!) ist und bleibt eine
Methode, welche die Geltung subjectiver Einfälle nach Möglichkeit einschränkt.
Ein bekannter Aesthetiker hat zwar und nicht mit Unrecht behauptet, kunst¬
historische Studien aus Urkunden ohne Bilderkenntniß seien einer Scheide ohne
Schwcrtklinge zu vergleichen. Ebenso gut paßt aus die Erkenntniß, die sich
auf das Stilgefühl verläßt und die äußere Bildergeschichte vernachlässigt, der


meinte Selbstständigkeit des Stilgefühls und die Autorität ihrer Hypothesen
zu gefährden. Seitdem das Stilgefühl eine viel größere Zahl von eigenthüm¬
lichen Kunstweisen beachten muß. verschmäht es die Hilfe der äußeren Bilder¬
geschichte nicht und läßt sich, indem es die Schicksale eines Bildes zurückver¬
folgt, den ursprünglichen Standort, die Spuren des Bestellers u. s. w. auf¬
sucht, in seinen Vermuthungen leiten, findet mindestens an den Resultaten
dieser Forschung eine stetige Correctur seiner subjectiven Aufstellungen. Wir
verdanken dieser combinatorischem Methode die meisten Fortschritte in der Ge¬
schichte der Malerei. Zu den durch innere und äußere Merkmale sicher be¬
glaubigten Bildern, die stets die wesentliche Grundlage der kunsthistorischen
Schilderung abgeben, tritt nun eine zweite Kategorie von Werken, deren äußere
Geschichte zu bestimmten Vermuthungen über ihren Ursprung führt, welche
dann auch durch das Stilgefühl bestätigt werden. Diese beiden Kategorien
bilden das eigentliche Material der Kunstgeschichte. Die dritte Reihe von
Gemälden, deren kunsthistorische Feststellung ausschließlich dem Stilgefühl über¬
lassen werden muß, beachtet die Wissenschaft nur so weit, als sich in dem¬
selben die Richtung und der Charakter einer Schule offenbart. Für die Kunst¬
geschichte bleiben sie bloße Schulbilder, mögen auch Kunsthändler, Besitzer
von Bildersammlungen und die Anfertiger von Galeriekatologen denselben
individuelle Namen beilegen. Das Recht, solches zuthun, wird diesen Män¬
nern niemand abstreiten, nur müssen sie wieder so billig sein und ihren Offen¬
barungen nicht den Werth wissenschaftlicher Erkenntniß beilegen wollen. Mühselig
hat die Kunstgeschichte erst in den letzten Jahren den subjectiven Standpunkt
überwunden; wir würden zu diesem zurückkehren und den willkürlichen Mei¬
nungen und Irrthümern wieder Thüre und Angel öffnen, wollten wir das
Stilgefühl als selbstständige Erkenntnißquelle ohne weitere Vorsicht gelten
lassen. Freilich besitzen wir den Trost, daß viel öfter noch der Künstler, der
ein Bild geschaffen, richtig bezeichnet wird, als der Gegenstand der Darstellung.
Das jüngste und nicht das schlechteste Beispiel eines solchen Irrthums ist das
berühmte Addisonporträt im Holland House. Macaulay hat aus den Zügen
des Bildes auf den Charakter des Mannes geistreiche Rückschlüsse gethan,
Westmacott das Bildnis, in seiner Statue Addisons im Poetenwinkel repro-
ducirt, und nun — zeigt es sich, daß es Sir Andrew Fountaine, einen ehren¬
werthen, ja bedeutenden Mann, aber eben nicht Addison vorstellt. Doch
solcher Trost macht die Sache nicht besser; empfehlenswert!) ist und bleibt eine
Methode, welche die Geltung subjectiver Einfälle nach Möglichkeit einschränkt.
Ein bekannter Aesthetiker hat zwar und nicht mit Unrecht behauptet, kunst¬
historische Studien aus Urkunden ohne Bilderkenntniß seien einer Scheide ohne
Schwcrtklinge zu vergleichen. Ebenso gut paßt aus die Erkenntniß, die sich
auf das Stilgefühl verläßt und die äußere Bildergeschichte vernachlässigt, der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0456" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/106267"/>
          <p xml:id="ID_1257" prev="#ID_1256" next="#ID_1258"> meinte Selbstständigkeit des Stilgefühls und die Autorität ihrer Hypothesen<lb/>
zu gefährden. Seitdem das Stilgefühl eine viel größere Zahl von eigenthüm¬<lb/>
lichen Kunstweisen beachten muß. verschmäht es die Hilfe der äußeren Bilder¬<lb/>
geschichte nicht und läßt sich, indem es die Schicksale eines Bildes zurückver¬<lb/>
folgt, den ursprünglichen Standort, die Spuren des Bestellers u. s. w. auf¬<lb/>
sucht, in seinen Vermuthungen leiten, findet mindestens an den Resultaten<lb/>
dieser Forschung eine stetige Correctur seiner subjectiven Aufstellungen. Wir<lb/>
verdanken dieser combinatorischem Methode die meisten Fortschritte in der Ge¬<lb/>
schichte der Malerei. Zu den durch innere und äußere Merkmale sicher be¬<lb/>
glaubigten Bildern, die stets die wesentliche Grundlage der kunsthistorischen<lb/>
Schilderung abgeben, tritt nun eine zweite Kategorie von Werken, deren äußere<lb/>
Geschichte zu bestimmten Vermuthungen über ihren Ursprung führt, welche<lb/>
dann auch durch das Stilgefühl bestätigt werden. Diese beiden Kategorien<lb/>
bilden das eigentliche Material der Kunstgeschichte. Die dritte Reihe von<lb/>
Gemälden, deren kunsthistorische Feststellung ausschließlich dem Stilgefühl über¬<lb/>
lassen werden muß, beachtet die Wissenschaft nur so weit, als sich in dem¬<lb/>
selben die Richtung und der Charakter einer Schule offenbart. Für die Kunst¬<lb/>
geschichte bleiben sie bloße Schulbilder, mögen auch Kunsthändler, Besitzer<lb/>
von Bildersammlungen und die Anfertiger von Galeriekatologen denselben<lb/>
individuelle Namen beilegen. Das Recht, solches zuthun, wird diesen Män¬<lb/>
nern niemand abstreiten, nur müssen sie wieder so billig sein und ihren Offen¬<lb/>
barungen nicht den Werth wissenschaftlicher Erkenntniß beilegen wollen. Mühselig<lb/>
hat die Kunstgeschichte erst in den letzten Jahren den subjectiven Standpunkt<lb/>
überwunden; wir würden zu diesem zurückkehren und den willkürlichen Mei¬<lb/>
nungen und Irrthümern wieder Thüre und Angel öffnen, wollten wir das<lb/>
Stilgefühl als selbstständige Erkenntnißquelle ohne weitere Vorsicht gelten<lb/>
lassen. Freilich besitzen wir den Trost, daß viel öfter noch der Künstler, der<lb/>
ein Bild geschaffen, richtig bezeichnet wird, als der Gegenstand der Darstellung.<lb/>
Das jüngste und nicht das schlechteste Beispiel eines solchen Irrthums ist das<lb/>
berühmte Addisonporträt im Holland House. Macaulay hat aus den Zügen<lb/>
des Bildes auf den Charakter des Mannes geistreiche Rückschlüsse gethan,<lb/>
Westmacott das Bildnis, in seiner Statue Addisons im Poetenwinkel repro-<lb/>
ducirt, und nun &#x2014; zeigt es sich, daß es Sir Andrew Fountaine, einen ehren¬<lb/>
werthen, ja bedeutenden Mann, aber eben nicht Addison vorstellt. Doch<lb/>
solcher Trost macht die Sache nicht besser; empfehlenswert!) ist und bleibt eine<lb/>
Methode, welche die Geltung subjectiver Einfälle nach Möglichkeit einschränkt.<lb/>
Ein bekannter Aesthetiker hat zwar und nicht mit Unrecht behauptet, kunst¬<lb/>
historische Studien aus Urkunden ohne Bilderkenntniß seien einer Scheide ohne<lb/>
Schwcrtklinge zu vergleichen. Ebenso gut paßt aus die Erkenntniß, die sich<lb/>
auf das Stilgefühl verläßt und die äußere Bildergeschichte vernachlässigt, der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0456] meinte Selbstständigkeit des Stilgefühls und die Autorität ihrer Hypothesen zu gefährden. Seitdem das Stilgefühl eine viel größere Zahl von eigenthüm¬ lichen Kunstweisen beachten muß. verschmäht es die Hilfe der äußeren Bilder¬ geschichte nicht und läßt sich, indem es die Schicksale eines Bildes zurückver¬ folgt, den ursprünglichen Standort, die Spuren des Bestellers u. s. w. auf¬ sucht, in seinen Vermuthungen leiten, findet mindestens an den Resultaten dieser Forschung eine stetige Correctur seiner subjectiven Aufstellungen. Wir verdanken dieser combinatorischem Methode die meisten Fortschritte in der Ge¬ schichte der Malerei. Zu den durch innere und äußere Merkmale sicher be¬ glaubigten Bildern, die stets die wesentliche Grundlage der kunsthistorischen Schilderung abgeben, tritt nun eine zweite Kategorie von Werken, deren äußere Geschichte zu bestimmten Vermuthungen über ihren Ursprung führt, welche dann auch durch das Stilgefühl bestätigt werden. Diese beiden Kategorien bilden das eigentliche Material der Kunstgeschichte. Die dritte Reihe von Gemälden, deren kunsthistorische Feststellung ausschließlich dem Stilgefühl über¬ lassen werden muß, beachtet die Wissenschaft nur so weit, als sich in dem¬ selben die Richtung und der Charakter einer Schule offenbart. Für die Kunst¬ geschichte bleiben sie bloße Schulbilder, mögen auch Kunsthändler, Besitzer von Bildersammlungen und die Anfertiger von Galeriekatologen denselben individuelle Namen beilegen. Das Recht, solches zuthun, wird diesen Män¬ nern niemand abstreiten, nur müssen sie wieder so billig sein und ihren Offen¬ barungen nicht den Werth wissenschaftlicher Erkenntniß beilegen wollen. Mühselig hat die Kunstgeschichte erst in den letzten Jahren den subjectiven Standpunkt überwunden; wir würden zu diesem zurückkehren und den willkürlichen Mei¬ nungen und Irrthümern wieder Thüre und Angel öffnen, wollten wir das Stilgefühl als selbstständige Erkenntnißquelle ohne weitere Vorsicht gelten lassen. Freilich besitzen wir den Trost, daß viel öfter noch der Künstler, der ein Bild geschaffen, richtig bezeichnet wird, als der Gegenstand der Darstellung. Das jüngste und nicht das schlechteste Beispiel eines solchen Irrthums ist das berühmte Addisonporträt im Holland House. Macaulay hat aus den Zügen des Bildes auf den Charakter des Mannes geistreiche Rückschlüsse gethan, Westmacott das Bildnis, in seiner Statue Addisons im Poetenwinkel repro- ducirt, und nun — zeigt es sich, daß es Sir Andrew Fountaine, einen ehren¬ werthen, ja bedeutenden Mann, aber eben nicht Addison vorstellt. Doch solcher Trost macht die Sache nicht besser; empfehlenswert!) ist und bleibt eine Methode, welche die Geltung subjectiver Einfälle nach Möglichkeit einschränkt. Ein bekannter Aesthetiker hat zwar und nicht mit Unrecht behauptet, kunst¬ historische Studien aus Urkunden ohne Bilderkenntniß seien einer Scheide ohne Schwcrtklinge zu vergleichen. Ebenso gut paßt aus die Erkenntniß, die sich auf das Stilgefühl verläßt und die äußere Bildergeschichte vernachlässigt, der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/456
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/456>, abgerufen am 25.08.2024.