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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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den Ausgangspunkt der Untersuchung, die Vergleichung mit ihnen gibt die
Mittel an die Hand, den Grad der Verwandtschaft zu bestimmen. Auch so
erhalten wir nur Wahrscheinlichkeitsschlüsse und bleiben, wie wir gesehen
haben, der Gefahr mannigfacher Irrthümer unterworfen. Die Schwankungen
und Irrthümer umschreiben aber glücklicherweise einen immer engeren Kreis,
die Wahrschcinlichkeitsschlüsse haben im Laus der Jahre an zwingender Kraft
gewonnen. Auch das Stilgefühl befolgt eine gewisse Methode und geht oft
unbewußt nach einer allgemeinen Regel vor. In früherer Zeit nahm man
aus jeder Schule einen einzigen Meister, auf welchen ohne weiteres Bedenken
alle unbenannten Bilder der ersteren übertragen wurden. Daß es stets der
Hauptmeistcr war, braucht kaum erwähnt zu werden. Fand man an einem
Gemälde die Merkmale der lombardischen Schule, so war es natürlich von
der Hand Leonardo da Vincis gearbeitet worden. Jedes altflandrische Bild
galt für ein Werk Jan van Eyks oder Memlmgs, grade wie noch heutzu¬
tage dem spanischen und italienischen Kunstkenner Dürers Name bei jedem
altdeutschen Gemälde vorschwebt. Allmälig erreichte die Summe der Werke,
die man diesen Hauptmeistern zuschrieb, eine solche Höhe, daß selbst dem Be¬
fangensten die Grundlosigkeit solcher Annahmen klar wurde. Um sie glaub¬
würdig zu machen, Hütte man zuerst beweisen müssen, daß diese Meister min¬
destens ein Jahrhundert gelebt und gleichzeitig mit beiden Händen gemalt
haben. Der gesunde Menschenverstand empfahl schon, neben dem Gründer
einer Schule auch die Nachfolger derselben zu berücksichtigen, die Bilder unter
die verwandten Meister gleichmäßiger zu vertheilen. Dadurch bekam das Stil¬
gefühl einen mächtigen Antrieb, schärfer zu prüfen und auch die feineren
Unterschiede zu beachten. Solange für alle Lombarden Vinci ausschließlich
eintrat, wurde die natürliche Stumpfheit des Auges nicht aufgerüttelt, jetzt,
wo auch Cesare da Sesto, solario, Beltraffio und andere Schüler Vincis
Ansprüche auf Vertretung erheben, muß die Reizbarkeit des Auges nothwen¬
dig geübt, die Aufmerksamkeit aus die feinsten Eigenthümlichkeiten nachhaltig
gerichtet werden. Erst von diesem Augenblicke an gewann das Stilgefühl
einen wissenschaftlichen Werth, mag es auch nicht immer vor Uebertreibungen
geschützt sein und jetzt mit der gleichen Vorliebe Namen aus den dunkelsten
Winkeln der Kunstgeschichte hervorsuchen, wie es ehemals nur an weltbekannte
seine Ahnungen anknüpfte. Es erhält dadurch einen wissenschaftlichen Werth,
daß es jetzt möglich wird, die Aussagen des subjectiven Stilgefühls mit den
Resultaten, welche das Studium der äußeren Bildergeschichte hervorruft, zu
verbinden. Der alten bequemen Methode, alle undatirten Bilder einer Schule
auf einen einzigen Meister zu übertragen, fehlte auch nach dieser Seite der
Antrieb zu weitergehenden Untersuchungen, es klebte ihr sogar eine natürliche
Scheu an, das äußere Schicksal der Bilder zu erforschen, um nicht die ver-


den Ausgangspunkt der Untersuchung, die Vergleichung mit ihnen gibt die
Mittel an die Hand, den Grad der Verwandtschaft zu bestimmen. Auch so
erhalten wir nur Wahrscheinlichkeitsschlüsse und bleiben, wie wir gesehen
haben, der Gefahr mannigfacher Irrthümer unterworfen. Die Schwankungen
und Irrthümer umschreiben aber glücklicherweise einen immer engeren Kreis,
die Wahrschcinlichkeitsschlüsse haben im Laus der Jahre an zwingender Kraft
gewonnen. Auch das Stilgefühl befolgt eine gewisse Methode und geht oft
unbewußt nach einer allgemeinen Regel vor. In früherer Zeit nahm man
aus jeder Schule einen einzigen Meister, auf welchen ohne weiteres Bedenken
alle unbenannten Bilder der ersteren übertragen wurden. Daß es stets der
Hauptmeistcr war, braucht kaum erwähnt zu werden. Fand man an einem
Gemälde die Merkmale der lombardischen Schule, so war es natürlich von
der Hand Leonardo da Vincis gearbeitet worden. Jedes altflandrische Bild
galt für ein Werk Jan van Eyks oder Memlmgs, grade wie noch heutzu¬
tage dem spanischen und italienischen Kunstkenner Dürers Name bei jedem
altdeutschen Gemälde vorschwebt. Allmälig erreichte die Summe der Werke,
die man diesen Hauptmeistern zuschrieb, eine solche Höhe, daß selbst dem Be¬
fangensten die Grundlosigkeit solcher Annahmen klar wurde. Um sie glaub¬
würdig zu machen, Hütte man zuerst beweisen müssen, daß diese Meister min¬
destens ein Jahrhundert gelebt und gleichzeitig mit beiden Händen gemalt
haben. Der gesunde Menschenverstand empfahl schon, neben dem Gründer
einer Schule auch die Nachfolger derselben zu berücksichtigen, die Bilder unter
die verwandten Meister gleichmäßiger zu vertheilen. Dadurch bekam das Stil¬
gefühl einen mächtigen Antrieb, schärfer zu prüfen und auch die feineren
Unterschiede zu beachten. Solange für alle Lombarden Vinci ausschließlich
eintrat, wurde die natürliche Stumpfheit des Auges nicht aufgerüttelt, jetzt,
wo auch Cesare da Sesto, solario, Beltraffio und andere Schüler Vincis
Ansprüche auf Vertretung erheben, muß die Reizbarkeit des Auges nothwen¬
dig geübt, die Aufmerksamkeit aus die feinsten Eigenthümlichkeiten nachhaltig
gerichtet werden. Erst von diesem Augenblicke an gewann das Stilgefühl
einen wissenschaftlichen Werth, mag es auch nicht immer vor Uebertreibungen
geschützt sein und jetzt mit der gleichen Vorliebe Namen aus den dunkelsten
Winkeln der Kunstgeschichte hervorsuchen, wie es ehemals nur an weltbekannte
seine Ahnungen anknüpfte. Es erhält dadurch einen wissenschaftlichen Werth,
daß es jetzt möglich wird, die Aussagen des subjectiven Stilgefühls mit den
Resultaten, welche das Studium der äußeren Bildergeschichte hervorruft, zu
verbinden. Der alten bequemen Methode, alle undatirten Bilder einer Schule
auf einen einzigen Meister zu übertragen, fehlte auch nach dieser Seite der
Antrieb zu weitergehenden Untersuchungen, es klebte ihr sogar eine natürliche
Scheu an, das äußere Schicksal der Bilder zu erforschen, um nicht die ver-


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[0455] den Ausgangspunkt der Untersuchung, die Vergleichung mit ihnen gibt die Mittel an die Hand, den Grad der Verwandtschaft zu bestimmen. Auch so erhalten wir nur Wahrscheinlichkeitsschlüsse und bleiben, wie wir gesehen haben, der Gefahr mannigfacher Irrthümer unterworfen. Die Schwankungen und Irrthümer umschreiben aber glücklicherweise einen immer engeren Kreis, die Wahrschcinlichkeitsschlüsse haben im Laus der Jahre an zwingender Kraft gewonnen. Auch das Stilgefühl befolgt eine gewisse Methode und geht oft unbewußt nach einer allgemeinen Regel vor. In früherer Zeit nahm man aus jeder Schule einen einzigen Meister, auf welchen ohne weiteres Bedenken alle unbenannten Bilder der ersteren übertragen wurden. Daß es stets der Hauptmeistcr war, braucht kaum erwähnt zu werden. Fand man an einem Gemälde die Merkmale der lombardischen Schule, so war es natürlich von der Hand Leonardo da Vincis gearbeitet worden. Jedes altflandrische Bild galt für ein Werk Jan van Eyks oder Memlmgs, grade wie noch heutzu¬ tage dem spanischen und italienischen Kunstkenner Dürers Name bei jedem altdeutschen Gemälde vorschwebt. Allmälig erreichte die Summe der Werke, die man diesen Hauptmeistern zuschrieb, eine solche Höhe, daß selbst dem Be¬ fangensten die Grundlosigkeit solcher Annahmen klar wurde. Um sie glaub¬ würdig zu machen, Hütte man zuerst beweisen müssen, daß diese Meister min¬ destens ein Jahrhundert gelebt und gleichzeitig mit beiden Händen gemalt haben. Der gesunde Menschenverstand empfahl schon, neben dem Gründer einer Schule auch die Nachfolger derselben zu berücksichtigen, die Bilder unter die verwandten Meister gleichmäßiger zu vertheilen. Dadurch bekam das Stil¬ gefühl einen mächtigen Antrieb, schärfer zu prüfen und auch die feineren Unterschiede zu beachten. Solange für alle Lombarden Vinci ausschließlich eintrat, wurde die natürliche Stumpfheit des Auges nicht aufgerüttelt, jetzt, wo auch Cesare da Sesto, solario, Beltraffio und andere Schüler Vincis Ansprüche auf Vertretung erheben, muß die Reizbarkeit des Auges nothwen¬ dig geübt, die Aufmerksamkeit aus die feinsten Eigenthümlichkeiten nachhaltig gerichtet werden. Erst von diesem Augenblicke an gewann das Stilgefühl einen wissenschaftlichen Werth, mag es auch nicht immer vor Uebertreibungen geschützt sein und jetzt mit der gleichen Vorliebe Namen aus den dunkelsten Winkeln der Kunstgeschichte hervorsuchen, wie es ehemals nur an weltbekannte seine Ahnungen anknüpfte. Es erhält dadurch einen wissenschaftlichen Werth, daß es jetzt möglich wird, die Aussagen des subjectiven Stilgefühls mit den Resultaten, welche das Studium der äußeren Bildergeschichte hervorruft, zu verbinden. Der alten bequemen Methode, alle undatirten Bilder einer Schule auf einen einzigen Meister zu übertragen, fehlte auch nach dieser Seite der Antrieb zu weitergehenden Untersuchungen, es klebte ihr sogar eine natürliche Scheu an, das äußere Schicksal der Bilder zu erforschen, um nicht die ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/455>, abgerufen am 23.07.2024.