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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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einzelnen Mitglieder denken mag, hat noch weniger ein Princip zur Grund¬
lage als seine Vorgänger. Man kann allerdings einen Minister, der an das
Nuder tritt, nicht für alles und jedes verantwortlich machen, was er vorher
als Oppositionsmann verfochten, ein Liberaler wird niemals alles das aus¬
führen, was er gefordert, ein Conservativer weniger unnachgiebig sein, als
seine Grundsätze erfordern würden. Aber auf das Maß kommt hierbei doch viel
an. 1852 wagten Lord Derby und Disraeli weder die Politik ihrer Vor¬
gänger anzuerkennen, noch ihr eignes bisheriges Glaubensbekenntnis; abzu¬
leugnen, sie schlössen sich in einer Art von principieller Neutralität ab, jetzt
bei dem zweiten Ministerium hat Disraeli offen die Meinungen aufgegeben,
die er während einer langen Laufbahn als Schriftsteller und Oppositionsmann
vertreten. Es mag die einzig mögliche Politik für das Ministerium sein, und wir
stimmen nicht in die bittern Jnvectiven seiner Gegner ein; denn sicher war Sir
Robert Peel, als er 1346 auf Cobdens Seite trat, nicht weniger inconsequent.
Aber es ist unbestreitbar, daß, wenn die Leiter einer Partei die Grundsätze
aufgeben, um welche man sich bisher geschart, man nicht mehr im alten Sinne
von Partei sprechen kann. Die Tones von 1830 und 1845 existiren nicht
mehr. Peel bildete eine neue eklektische Partei; dies war möglich, weil die
Differenz sich nur um eine mehr ökonomische als politische Frage drehte. Dis¬
raeli hat mit seiner ganzen politischen Vergangenheit gebrochen. Die Radi¬
kalen sagen, "was geht uns der Mann und seine Inconsequenz an, wenn er
nur die Maßregeln durchführt, welche wir für nothwendig halten." Für den
Erfolg der einzelnen Maßregeln allerdings mag wenig darauf ankommen,
aber für die Parteibildung und parlamentarische Regierung, ja wir müssen
sagen für die politische Moral, kommt sehr viel darauf an, daß die Minister
ernsthaft an die Principien glauben, welche sie durchführen und dieselben
dauernd vertreten, nicht aber als ein xis-iUIer annehmen, um sich am Nuder
zu erhalten. Es ist nicht vorherzusagen, wie lange sich die gegenwärtige
Verwaltung halten wird, ein Zufall kann sie umwerfen, Umstände können sie
Hinhalten, aber innere Bedingungen der Dauer hat sie nicht. Wir fragen
deshalb, was sind die Elemente der künftigen wahren Parteien, und welches
ihre Aussichten?

Niemand kann leugnen, daß das Unterhaus in der letzten Zeit arm an
Talenten gewesen, und niemand kann bestreiten, daß das wesentlich das Re¬
sultat der Neformacte von 1832 ist. Diese Maßregel übertrug 141 Plätze,
welche früher von parlamentarischen Patronen vergeben wurden, aus größere
Städte zur freien Wahl. Man darf sich nicht wundern, daß diese im Durch¬
schnitt wenig talentvolle Männer wählten, während jene aristokratischen Patrone
die größten Talente in das Unterhaus brachten, welche in demselben geglänzt
haben. Denn bei der Macht des Hauses der Gemeinen mußte der Aristokratie


einzelnen Mitglieder denken mag, hat noch weniger ein Princip zur Grund¬
lage als seine Vorgänger. Man kann allerdings einen Minister, der an das
Nuder tritt, nicht für alles und jedes verantwortlich machen, was er vorher
als Oppositionsmann verfochten, ein Liberaler wird niemals alles das aus¬
führen, was er gefordert, ein Conservativer weniger unnachgiebig sein, als
seine Grundsätze erfordern würden. Aber auf das Maß kommt hierbei doch viel
an. 1852 wagten Lord Derby und Disraeli weder die Politik ihrer Vor¬
gänger anzuerkennen, noch ihr eignes bisheriges Glaubensbekenntnis; abzu¬
leugnen, sie schlössen sich in einer Art von principieller Neutralität ab, jetzt
bei dem zweiten Ministerium hat Disraeli offen die Meinungen aufgegeben,
die er während einer langen Laufbahn als Schriftsteller und Oppositionsmann
vertreten. Es mag die einzig mögliche Politik für das Ministerium sein, und wir
stimmen nicht in die bittern Jnvectiven seiner Gegner ein; denn sicher war Sir
Robert Peel, als er 1346 auf Cobdens Seite trat, nicht weniger inconsequent.
Aber es ist unbestreitbar, daß, wenn die Leiter einer Partei die Grundsätze
aufgeben, um welche man sich bisher geschart, man nicht mehr im alten Sinne
von Partei sprechen kann. Die Tones von 1830 und 1845 existiren nicht
mehr. Peel bildete eine neue eklektische Partei; dies war möglich, weil die
Differenz sich nur um eine mehr ökonomische als politische Frage drehte. Dis¬
raeli hat mit seiner ganzen politischen Vergangenheit gebrochen. Die Radi¬
kalen sagen, „was geht uns der Mann und seine Inconsequenz an, wenn er
nur die Maßregeln durchführt, welche wir für nothwendig halten." Für den
Erfolg der einzelnen Maßregeln allerdings mag wenig darauf ankommen,
aber für die Parteibildung und parlamentarische Regierung, ja wir müssen
sagen für die politische Moral, kommt sehr viel darauf an, daß die Minister
ernsthaft an die Principien glauben, welche sie durchführen und dieselben
dauernd vertreten, nicht aber als ein xis-iUIer annehmen, um sich am Nuder
zu erhalten. Es ist nicht vorherzusagen, wie lange sich die gegenwärtige
Verwaltung halten wird, ein Zufall kann sie umwerfen, Umstände können sie
Hinhalten, aber innere Bedingungen der Dauer hat sie nicht. Wir fragen
deshalb, was sind die Elemente der künftigen wahren Parteien, und welches
ihre Aussichten?

Niemand kann leugnen, daß das Unterhaus in der letzten Zeit arm an
Talenten gewesen, und niemand kann bestreiten, daß das wesentlich das Re¬
sultat der Neformacte von 1832 ist. Diese Maßregel übertrug 141 Plätze,
welche früher von parlamentarischen Patronen vergeben wurden, aus größere
Städte zur freien Wahl. Man darf sich nicht wundern, daß diese im Durch¬
schnitt wenig talentvolle Männer wählten, während jene aristokratischen Patrone
die größten Talente in das Unterhaus brachten, welche in demselben geglänzt
haben. Denn bei der Macht des Hauses der Gemeinen mußte der Aristokratie


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[0372] einzelnen Mitglieder denken mag, hat noch weniger ein Princip zur Grund¬ lage als seine Vorgänger. Man kann allerdings einen Minister, der an das Nuder tritt, nicht für alles und jedes verantwortlich machen, was er vorher als Oppositionsmann verfochten, ein Liberaler wird niemals alles das aus¬ führen, was er gefordert, ein Conservativer weniger unnachgiebig sein, als seine Grundsätze erfordern würden. Aber auf das Maß kommt hierbei doch viel an. 1852 wagten Lord Derby und Disraeli weder die Politik ihrer Vor¬ gänger anzuerkennen, noch ihr eignes bisheriges Glaubensbekenntnis; abzu¬ leugnen, sie schlössen sich in einer Art von principieller Neutralität ab, jetzt bei dem zweiten Ministerium hat Disraeli offen die Meinungen aufgegeben, die er während einer langen Laufbahn als Schriftsteller und Oppositionsmann vertreten. Es mag die einzig mögliche Politik für das Ministerium sein, und wir stimmen nicht in die bittern Jnvectiven seiner Gegner ein; denn sicher war Sir Robert Peel, als er 1346 auf Cobdens Seite trat, nicht weniger inconsequent. Aber es ist unbestreitbar, daß, wenn die Leiter einer Partei die Grundsätze aufgeben, um welche man sich bisher geschart, man nicht mehr im alten Sinne von Partei sprechen kann. Die Tones von 1830 und 1845 existiren nicht mehr. Peel bildete eine neue eklektische Partei; dies war möglich, weil die Differenz sich nur um eine mehr ökonomische als politische Frage drehte. Dis¬ raeli hat mit seiner ganzen politischen Vergangenheit gebrochen. Die Radi¬ kalen sagen, „was geht uns der Mann und seine Inconsequenz an, wenn er nur die Maßregeln durchführt, welche wir für nothwendig halten." Für den Erfolg der einzelnen Maßregeln allerdings mag wenig darauf ankommen, aber für die Parteibildung und parlamentarische Regierung, ja wir müssen sagen für die politische Moral, kommt sehr viel darauf an, daß die Minister ernsthaft an die Principien glauben, welche sie durchführen und dieselben dauernd vertreten, nicht aber als ein xis-iUIer annehmen, um sich am Nuder zu erhalten. Es ist nicht vorherzusagen, wie lange sich die gegenwärtige Verwaltung halten wird, ein Zufall kann sie umwerfen, Umstände können sie Hinhalten, aber innere Bedingungen der Dauer hat sie nicht. Wir fragen deshalb, was sind die Elemente der künftigen wahren Parteien, und welches ihre Aussichten? Niemand kann leugnen, daß das Unterhaus in der letzten Zeit arm an Talenten gewesen, und niemand kann bestreiten, daß das wesentlich das Re¬ sultat der Neformacte von 1832 ist. Diese Maßregel übertrug 141 Plätze, welche früher von parlamentarischen Patronen vergeben wurden, aus größere Städte zur freien Wahl. Man darf sich nicht wundern, daß diese im Durch¬ schnitt wenig talentvolle Männer wählten, während jene aristokratischen Patrone die größten Talente in das Unterhaus brachten, welche in demselben geglänzt haben. Denn bei der Macht des Hauses der Gemeinen mußte der Aristokratie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/372>, abgerufen am 23.07.2024.