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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Bemerkung für berechtigt halten, daß es nicht sociale oder politische Verände¬
rungen sind, welche den Mangel einer kräftigen Partcidisciplin erklären, und
daß eine Neubildung eintreten wird, wenn eine große Frage vor das Parla¬
ment gebracht wird, über welche einflußreiche Classen der Gesellschaft verschied-
ner Ansicht sind.

Es ist eine natürliche Folge der Auflösung der alten Parteien, daß sich
ephemere Parteiunterschiede gebildet haben. Sie finden sich auf beiden Seiten
des Unterhauses, indeß vorzüglich in den Reihen der Liberalen. Gladstone
und Bright z. B. sind an der Spitze kleiner Scharen, welche sich vollkommen
unabhängig gestellt und die Tones gegen Lord Palmerston unterstützt
haben. Cardwcll hat sich von den Pecliten getrennt und hat sich ganz zu
den Whigs geschlagen, unter den Radicalen sind die Unterabtheilungen zahl¬
reich, auf der andern Seite hat Bentinck seinen Freund Disraeli verlassen
und votirt sür Palmerston. Diese Ansätze neuer Parteien verdanken ihren
Ursprung theils politischen, theils persönlichen Differenzen, und obwol sie noth¬
wendigerweise nur ephemerer Natur sein können, so verwickeln und erschweren
sie natürlich den Gang der Geschäfte im Unterhause im hohen Grade und
geben jedem Ministerium, selbst wenn es aus den tüchtigsten Köpfen zusammen¬
gesetzt ist, ein Gefühl der Unsicherheit, weil das Resultat der Abstimmungen
schwer zu berechnen ist.

Unter diesen Umständen ist nur zweierlei möglich. Ein Ministerium muß
entweder eine Menge von verschiedenen Ansichten in seinen Schoß aufnehmen, um
so schließlich eine Majorität im Hause zu haben, oder es muß regieren, indem es
die Parteien geschickt balancirt und sich auf die Masse der Nation stützt. Das
Erste unternahm Lord Aberdeen, das zweite Lord Palmerston. Man weiß,
wie die Koalition des edlen Grafen und Führers der Peeliten der ersten
Probe unterlag; der Krimkrieg zerstörte sie im Anfang der dritten Session,
uach einer unrühmlichen zweijährigen Existenz. Lord Palmerston, der an die
Spitze des neuen Ministeriums trat, verließ das Princip der Koalition und
ergriff eine Politik, welche der Größe der Umstände gewachsen war; die kräf¬
tige Fortführung des Krieges war die große Hauptsache, keine Partei im
Parlament konnte dagegen sein. So erhob sich Lord Palmerston über die Partei¬
differenzen und wurde hierbei für die auswärtige Politik, wie man sich nicht
verhehlen kann, von einer mächtigen Popularität unterstützt und getragen, wie
Canning vor der Reformbill 1827 . er regierte durch Unterstützung von allen
Seiten, während er bei innern Fragen die Parteien geschickt zu balanciren
wußte. Er siel im Anfang dieses Jahres, als er in einer bedeutenden Frage,
in welcher die Engländer nicht zu scherzen verstehen, nicht mehr richtig
balancirte.

Das jetzige Ministerium, wie hoch man auch von den Fähigkeiten seiner


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Bemerkung für berechtigt halten, daß es nicht sociale oder politische Verände¬
rungen sind, welche den Mangel einer kräftigen Partcidisciplin erklären, und
daß eine Neubildung eintreten wird, wenn eine große Frage vor das Parla¬
ment gebracht wird, über welche einflußreiche Classen der Gesellschaft verschied-
ner Ansicht sind.

Es ist eine natürliche Folge der Auflösung der alten Parteien, daß sich
ephemere Parteiunterschiede gebildet haben. Sie finden sich auf beiden Seiten
des Unterhauses, indeß vorzüglich in den Reihen der Liberalen. Gladstone
und Bright z. B. sind an der Spitze kleiner Scharen, welche sich vollkommen
unabhängig gestellt und die Tones gegen Lord Palmerston unterstützt
haben. Cardwcll hat sich von den Pecliten getrennt und hat sich ganz zu
den Whigs geschlagen, unter den Radicalen sind die Unterabtheilungen zahl¬
reich, auf der andern Seite hat Bentinck seinen Freund Disraeli verlassen
und votirt sür Palmerston. Diese Ansätze neuer Parteien verdanken ihren
Ursprung theils politischen, theils persönlichen Differenzen, und obwol sie noth¬
wendigerweise nur ephemerer Natur sein können, so verwickeln und erschweren
sie natürlich den Gang der Geschäfte im Unterhause im hohen Grade und
geben jedem Ministerium, selbst wenn es aus den tüchtigsten Köpfen zusammen¬
gesetzt ist, ein Gefühl der Unsicherheit, weil das Resultat der Abstimmungen
schwer zu berechnen ist.

Unter diesen Umständen ist nur zweierlei möglich. Ein Ministerium muß
entweder eine Menge von verschiedenen Ansichten in seinen Schoß aufnehmen, um
so schließlich eine Majorität im Hause zu haben, oder es muß regieren, indem es
die Parteien geschickt balancirt und sich auf die Masse der Nation stützt. Das
Erste unternahm Lord Aberdeen, das zweite Lord Palmerston. Man weiß,
wie die Koalition des edlen Grafen und Führers der Peeliten der ersten
Probe unterlag; der Krimkrieg zerstörte sie im Anfang der dritten Session,
uach einer unrühmlichen zweijährigen Existenz. Lord Palmerston, der an die
Spitze des neuen Ministeriums trat, verließ das Princip der Koalition und
ergriff eine Politik, welche der Größe der Umstände gewachsen war; die kräf¬
tige Fortführung des Krieges war die große Hauptsache, keine Partei im
Parlament konnte dagegen sein. So erhob sich Lord Palmerston über die Partei¬
differenzen und wurde hierbei für die auswärtige Politik, wie man sich nicht
verhehlen kann, von einer mächtigen Popularität unterstützt und getragen, wie
Canning vor der Reformbill 1827 . er regierte durch Unterstützung von allen
Seiten, während er bei innern Fragen die Parteien geschickt zu balanciren
wußte. Er siel im Anfang dieses Jahres, als er in einer bedeutenden Frage,
in welcher die Engländer nicht zu scherzen verstehen, nicht mehr richtig
balancirte.

Das jetzige Ministerium, wie hoch man auch von den Fähigkeiten seiner


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[0371] Bemerkung für berechtigt halten, daß es nicht sociale oder politische Verände¬ rungen sind, welche den Mangel einer kräftigen Partcidisciplin erklären, und daß eine Neubildung eintreten wird, wenn eine große Frage vor das Parla¬ ment gebracht wird, über welche einflußreiche Classen der Gesellschaft verschied- ner Ansicht sind. Es ist eine natürliche Folge der Auflösung der alten Parteien, daß sich ephemere Parteiunterschiede gebildet haben. Sie finden sich auf beiden Seiten des Unterhauses, indeß vorzüglich in den Reihen der Liberalen. Gladstone und Bright z. B. sind an der Spitze kleiner Scharen, welche sich vollkommen unabhängig gestellt und die Tones gegen Lord Palmerston unterstützt haben. Cardwcll hat sich von den Pecliten getrennt und hat sich ganz zu den Whigs geschlagen, unter den Radicalen sind die Unterabtheilungen zahl¬ reich, auf der andern Seite hat Bentinck seinen Freund Disraeli verlassen und votirt sür Palmerston. Diese Ansätze neuer Parteien verdanken ihren Ursprung theils politischen, theils persönlichen Differenzen, und obwol sie noth¬ wendigerweise nur ephemerer Natur sein können, so verwickeln und erschweren sie natürlich den Gang der Geschäfte im Unterhause im hohen Grade und geben jedem Ministerium, selbst wenn es aus den tüchtigsten Köpfen zusammen¬ gesetzt ist, ein Gefühl der Unsicherheit, weil das Resultat der Abstimmungen schwer zu berechnen ist. Unter diesen Umständen ist nur zweierlei möglich. Ein Ministerium muß entweder eine Menge von verschiedenen Ansichten in seinen Schoß aufnehmen, um so schließlich eine Majorität im Hause zu haben, oder es muß regieren, indem es die Parteien geschickt balancirt und sich auf die Masse der Nation stützt. Das Erste unternahm Lord Aberdeen, das zweite Lord Palmerston. Man weiß, wie die Koalition des edlen Grafen und Führers der Peeliten der ersten Probe unterlag; der Krimkrieg zerstörte sie im Anfang der dritten Session, uach einer unrühmlichen zweijährigen Existenz. Lord Palmerston, der an die Spitze des neuen Ministeriums trat, verließ das Princip der Koalition und ergriff eine Politik, welche der Größe der Umstände gewachsen war; die kräf¬ tige Fortführung des Krieges war die große Hauptsache, keine Partei im Parlament konnte dagegen sein. So erhob sich Lord Palmerston über die Partei¬ differenzen und wurde hierbei für die auswärtige Politik, wie man sich nicht verhehlen kann, von einer mächtigen Popularität unterstützt und getragen, wie Canning vor der Reformbill 1827 . er regierte durch Unterstützung von allen Seiten, während er bei innern Fragen die Parteien geschickt zu balanciren wußte. Er siel im Anfang dieses Jahres, als er in einer bedeutenden Frage, in welcher die Engländer nicht zu scherzen verstehen, nicht mehr richtig balancirte. Das jetzige Ministerium, wie hoch man auch von den Fähigkeiten seiner 46 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/371>, abgerufen am 22.07.2024.