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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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für sich in Anspruch nimmt. Es wäre gewiß ein ebenso thörichtes als ver¬
gebliches Unternehmen, jede Einzelnheit im Studien- und Erziehungsplan Karl
Eugens halten oder vertheidigen zu wollen. Und daß, wie das überall im Ver¬
lauf der vorliegenden Beschreibung zu Tage liegt, durch Schuld des Herzogs und
des Intendanten, durch übergroßen Eifer und soldatische Pedanterie der Sub¬
alternen gar manche Mißgriffe gemacht wurden, wer wird das bestreiten
wollen? Sie hängen aber mit den Principien der Anstalt so genau zusammen,
als die Ecken und Auswüchse in Basedows Philanthropin oder in Pestalozzis
Anstalten mit dem Ideenkreise dieser Männer. Beides, Princip und Aus¬
führung, ist in solchen prägnanten Zeiterscheinungen so zusammengewachsen,
daß wir eines nicht ohne das andere verstehen, eins nur im andern richten
können. Es versteht sich von selbst, daß die Kritik sich mit beiden zu befassen
hat -- aber eben mit beiden und zwar hat sie an das Einzelne keinen andern
Maßstab zu legen, als den des Ganzen.

Nichts leichter, als Einzelnheiten des dessauer Philanthropins herausnehmen
und an der Richtschnur unsrer Anschauung messen. Aber wenn wir sagen
wollten: so und so weit durfte Basedow gehen, um vernünftig zu bleiben und
seinem Institute etwa Fortdauer bis auf unsere Tage zu sichern, was möchte
über solcher Krittelei noch von der Ursprünglichkeit, vom Sinn und Geist
seiner Anstalt übrig bleiben?

Herr Wagner erinnert uns an dies in seiner Beschreibung der Karls¬
akademie auf jeder Seite.

Es mag herzlich gut gemeint sein mit dem Institut, das sich Herr Wag¬
ner unter seinen Verbesserungsvorschlägen noch heute blühend denkt, aber den
Gedanken wird kein Leser seines Buchs auf den ersten zehn Seiten unterdrücken
können: Da waltet alles, nur nicht Herzog Karls Geist -- das ist Registra-
torenarbeit, so spricht die wohlwollende philiströse Aufklärung des 19. Jahr¬
hunderts, die außer ihren selbstzugeschnittenen Schablonen keinen andern Ma߬
stab kennt! Und zwar ist es ein Maßstab, der uns in seinen Einzelnheiten
oft peinlich berührt hat.

Wer wird die Dedication mit-ihrem Motto "nicht nebenaus" ohne Wider¬
willen lesen? Gar zu burlesk ist doch die Schilderung B. 1. S. 251. "Nun
denke man sich die solitude zwei Stunden von Stuttgart gelegen, wohin wol
von hier oder Tübingen keiner dieser Examinatoren, den Ranzen auf dem
Rücken, den Weg zu Fuß über den Hasenberg gemacht haben wird." Mit
Ausführlichkeit werden die ebenso knabenhaften als irrelevanten Angriffe eines
Herrn von Scheeler und anderer Zöglinge ausgemalt! Das Beispiel ferner
von den "Gratianern mit dem Schnupftabak, Lukretiensast und Arzneikolben"
erinnert an die Bierbank. Man vergleiche endlich S. 340 "besser ein Treib¬
haus als ein Kneiphaus" und 1. B. S. 59 Anm., da dem Intendanten zu-


für sich in Anspruch nimmt. Es wäre gewiß ein ebenso thörichtes als ver¬
gebliches Unternehmen, jede Einzelnheit im Studien- und Erziehungsplan Karl
Eugens halten oder vertheidigen zu wollen. Und daß, wie das überall im Ver¬
lauf der vorliegenden Beschreibung zu Tage liegt, durch Schuld des Herzogs und
des Intendanten, durch übergroßen Eifer und soldatische Pedanterie der Sub¬
alternen gar manche Mißgriffe gemacht wurden, wer wird das bestreiten
wollen? Sie hängen aber mit den Principien der Anstalt so genau zusammen,
als die Ecken und Auswüchse in Basedows Philanthropin oder in Pestalozzis
Anstalten mit dem Ideenkreise dieser Männer. Beides, Princip und Aus¬
führung, ist in solchen prägnanten Zeiterscheinungen so zusammengewachsen,
daß wir eines nicht ohne das andere verstehen, eins nur im andern richten
können. Es versteht sich von selbst, daß die Kritik sich mit beiden zu befassen
hat — aber eben mit beiden und zwar hat sie an das Einzelne keinen andern
Maßstab zu legen, als den des Ganzen.

Nichts leichter, als Einzelnheiten des dessauer Philanthropins herausnehmen
und an der Richtschnur unsrer Anschauung messen. Aber wenn wir sagen
wollten: so und so weit durfte Basedow gehen, um vernünftig zu bleiben und
seinem Institute etwa Fortdauer bis auf unsere Tage zu sichern, was möchte
über solcher Krittelei noch von der Ursprünglichkeit, vom Sinn und Geist
seiner Anstalt übrig bleiben?

Herr Wagner erinnert uns an dies in seiner Beschreibung der Karls¬
akademie auf jeder Seite.

Es mag herzlich gut gemeint sein mit dem Institut, das sich Herr Wag¬
ner unter seinen Verbesserungsvorschlägen noch heute blühend denkt, aber den
Gedanken wird kein Leser seines Buchs auf den ersten zehn Seiten unterdrücken
können: Da waltet alles, nur nicht Herzog Karls Geist — das ist Registra-
torenarbeit, so spricht die wohlwollende philiströse Aufklärung des 19. Jahr¬
hunderts, die außer ihren selbstzugeschnittenen Schablonen keinen andern Ma߬
stab kennt! Und zwar ist es ein Maßstab, der uns in seinen Einzelnheiten
oft peinlich berührt hat.

Wer wird die Dedication mit-ihrem Motto „nicht nebenaus" ohne Wider¬
willen lesen? Gar zu burlesk ist doch die Schilderung B. 1. S. 251. „Nun
denke man sich die solitude zwei Stunden von Stuttgart gelegen, wohin wol
von hier oder Tübingen keiner dieser Examinatoren, den Ranzen auf dem
Rücken, den Weg zu Fuß über den Hasenberg gemacht haben wird." Mit
Ausführlichkeit werden die ebenso knabenhaften als irrelevanten Angriffe eines
Herrn von Scheeler und anderer Zöglinge ausgemalt! Das Beispiel ferner
von den „Gratianern mit dem Schnupftabak, Lukretiensast und Arzneikolben"
erinnert an die Bierbank. Man vergleiche endlich S. 340 „besser ein Treib¬
haus als ein Kneiphaus" und 1. B. S. 59 Anm., da dem Intendanten zu-


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[0332] für sich in Anspruch nimmt. Es wäre gewiß ein ebenso thörichtes als ver¬ gebliches Unternehmen, jede Einzelnheit im Studien- und Erziehungsplan Karl Eugens halten oder vertheidigen zu wollen. Und daß, wie das überall im Ver¬ lauf der vorliegenden Beschreibung zu Tage liegt, durch Schuld des Herzogs und des Intendanten, durch übergroßen Eifer und soldatische Pedanterie der Sub¬ alternen gar manche Mißgriffe gemacht wurden, wer wird das bestreiten wollen? Sie hängen aber mit den Principien der Anstalt so genau zusammen, als die Ecken und Auswüchse in Basedows Philanthropin oder in Pestalozzis Anstalten mit dem Ideenkreise dieser Männer. Beides, Princip und Aus¬ führung, ist in solchen prägnanten Zeiterscheinungen so zusammengewachsen, daß wir eines nicht ohne das andere verstehen, eins nur im andern richten können. Es versteht sich von selbst, daß die Kritik sich mit beiden zu befassen hat — aber eben mit beiden und zwar hat sie an das Einzelne keinen andern Maßstab zu legen, als den des Ganzen. Nichts leichter, als Einzelnheiten des dessauer Philanthropins herausnehmen und an der Richtschnur unsrer Anschauung messen. Aber wenn wir sagen wollten: so und so weit durfte Basedow gehen, um vernünftig zu bleiben und seinem Institute etwa Fortdauer bis auf unsere Tage zu sichern, was möchte über solcher Krittelei noch von der Ursprünglichkeit, vom Sinn und Geist seiner Anstalt übrig bleiben? Herr Wagner erinnert uns an dies in seiner Beschreibung der Karls¬ akademie auf jeder Seite. Es mag herzlich gut gemeint sein mit dem Institut, das sich Herr Wag¬ ner unter seinen Verbesserungsvorschlägen noch heute blühend denkt, aber den Gedanken wird kein Leser seines Buchs auf den ersten zehn Seiten unterdrücken können: Da waltet alles, nur nicht Herzog Karls Geist — das ist Registra- torenarbeit, so spricht die wohlwollende philiströse Aufklärung des 19. Jahr¬ hunderts, die außer ihren selbstzugeschnittenen Schablonen keinen andern Ma߬ stab kennt! Und zwar ist es ein Maßstab, der uns in seinen Einzelnheiten oft peinlich berührt hat. Wer wird die Dedication mit-ihrem Motto „nicht nebenaus" ohne Wider¬ willen lesen? Gar zu burlesk ist doch die Schilderung B. 1. S. 251. „Nun denke man sich die solitude zwei Stunden von Stuttgart gelegen, wohin wol von hier oder Tübingen keiner dieser Examinatoren, den Ranzen auf dem Rücken, den Weg zu Fuß über den Hasenberg gemacht haben wird." Mit Ausführlichkeit werden die ebenso knabenhaften als irrelevanten Angriffe eines Herrn von Scheeler und anderer Zöglinge ausgemalt! Das Beispiel ferner von den „Gratianern mit dem Schnupftabak, Lukretiensast und Arzneikolben" erinnert an die Bierbank. Man vergleiche endlich S. 340 „besser ein Treib¬ haus als ein Kneiphaus" und 1. B. S. 59 Anm., da dem Intendanten zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/332>, abgerufen am 23.07.2024.