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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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dahin, daß ich glaubte, ich mühte ebenso bescheiden gegen Volkslehre sein;
nie habe ich mir es können erlauben, den Artikel von der Gottheit Jesu
und seiner Versöhnung zu bestreiten, weil ich aus der Kirchengeschichte und aus
eigner Erfahrung an anderen Menschen wußte, daß diese Lehre vom Entstehen
des Christenthums an Millionen Menschen Trost und Lebensbesserung gegeben
hatte, und pflegte sie auch allemal, wo es das Thema erlaubte, obschon ich
selbst nicht von ihrer Wahrheit überzeugt war, aus Moralität und Liebe gegen
Gott und Menschen anzuwenden. Ich wünschte, wenn Du auch von der
Rechimüßigkeit dieses Verfahrens Dich nicht überzeugen kannst, daß Du wenig¬
stens doch jene Lehre nie öffentlich bestreiten möchtest." Wie wenig Boden
die Rechtgläubigkeit im innersten Kern seiner Bildung hatte, zeigt noch mehr
bald darauf das Lob, daß er über Fichtes Kritik aller Offenbarung ausspricht;
fortan ist von beiden Seiten der Gedankenaustausch ganz offen und unum¬
wunden. Schleiermacher scheut sich auch nicht zu gestehen, daß er die fran¬
zösische Revolution im Ganzen genommen sehr liebt, abgesehen von dein,
was Leidenschaften und überspannte Begriffe daran gethan haben. Im Oktober
17i)4 starb der Vater, von dem Sohn aufrichtig und herzlich betrauert; seine
nächste Vertraute blieb jetzt seine Schwester Charlotte, die, obgleich für sich
strenge Herrnhuterin, doch den Gedanken und Gemüthsbewegungen ihres
Bruders mit inniger Theilnahme folgte.

In Landsberg blieb Schleiermacher bis 1796, wo er als Charit6-
prediger nach Berlin berufen wurde. Hier fand er seinen alten Freund Gustav
v. Brinkmann wieder, der ihn in die Zirkel der geistvollen Jüdinnen, da¬
mals die beste Gesellschaft Berlins, einführte. Mit der schönen Henriette
Herz entspann sich bald ein Freundschaftsverhültniß von einer seltenen
Innigkeit und Vertraulichkeit, das aber nie ins Gebiet der Leidenschaft über¬
spielte, wenn ihn auch selbst seine Freunde im Verdacht hatten. "Daß ge¬
wöhnliche Menschen," schreibt Schleiermacher 30. Mai 1793 an seine Schwester,
"von gewöhnlichen Menschen glauben, Mann und Frau könnten nicht vertraut
sein, ohne leidenschaftlich und verliebt zu werden, das ist ganz in der Ord¬
nung, aber meine nächsten Freunde!" Auch Sack warnte ihn. er könne durch
diesen Umgang seiner Beförderung schaden; indeß ließ sich Schleiermacher da¬
durch nicht anfechten. Freilich gesteht er einmal November 1798 : "Wenn ich
die Herz hätte heirathen können, ich glaube, das hätte eine capitale Ehe
werden müssen, es müßte denn sein, daß sie gar zu einträchtig geworden wäre.
Es macht mir oft ein trauriges Vergnügen zu denken, welche Menschen zu¬
sammen gepaßt haben würden, indem oft, wenn man drei oder vier Paar
zusammennimmt, recht gute Ehen entstehen könnten, wenn sie tauschen dürften."
^ Aber: "Es liegt sehr tief in meiner Natur, daß ich mich immer
genauer an Frauen anschließen werde, als an Männer; denn es ist


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dahin, daß ich glaubte, ich mühte ebenso bescheiden gegen Volkslehre sein;
nie habe ich mir es können erlauben, den Artikel von der Gottheit Jesu
und seiner Versöhnung zu bestreiten, weil ich aus der Kirchengeschichte und aus
eigner Erfahrung an anderen Menschen wußte, daß diese Lehre vom Entstehen
des Christenthums an Millionen Menschen Trost und Lebensbesserung gegeben
hatte, und pflegte sie auch allemal, wo es das Thema erlaubte, obschon ich
selbst nicht von ihrer Wahrheit überzeugt war, aus Moralität und Liebe gegen
Gott und Menschen anzuwenden. Ich wünschte, wenn Du auch von der
Rechimüßigkeit dieses Verfahrens Dich nicht überzeugen kannst, daß Du wenig¬
stens doch jene Lehre nie öffentlich bestreiten möchtest." Wie wenig Boden
die Rechtgläubigkeit im innersten Kern seiner Bildung hatte, zeigt noch mehr
bald darauf das Lob, daß er über Fichtes Kritik aller Offenbarung ausspricht;
fortan ist von beiden Seiten der Gedankenaustausch ganz offen und unum¬
wunden. Schleiermacher scheut sich auch nicht zu gestehen, daß er die fran¬
zösische Revolution im Ganzen genommen sehr liebt, abgesehen von dein,
was Leidenschaften und überspannte Begriffe daran gethan haben. Im Oktober
17i)4 starb der Vater, von dem Sohn aufrichtig und herzlich betrauert; seine
nächste Vertraute blieb jetzt seine Schwester Charlotte, die, obgleich für sich
strenge Herrnhuterin, doch den Gedanken und Gemüthsbewegungen ihres
Bruders mit inniger Theilnahme folgte.

In Landsberg blieb Schleiermacher bis 1796, wo er als Charit6-
prediger nach Berlin berufen wurde. Hier fand er seinen alten Freund Gustav
v. Brinkmann wieder, der ihn in die Zirkel der geistvollen Jüdinnen, da¬
mals die beste Gesellschaft Berlins, einführte. Mit der schönen Henriette
Herz entspann sich bald ein Freundschaftsverhültniß von einer seltenen
Innigkeit und Vertraulichkeit, das aber nie ins Gebiet der Leidenschaft über¬
spielte, wenn ihn auch selbst seine Freunde im Verdacht hatten. „Daß ge¬
wöhnliche Menschen," schreibt Schleiermacher 30. Mai 1793 an seine Schwester,
„von gewöhnlichen Menschen glauben, Mann und Frau könnten nicht vertraut
sein, ohne leidenschaftlich und verliebt zu werden, das ist ganz in der Ord¬
nung, aber meine nächsten Freunde!" Auch Sack warnte ihn. er könne durch
diesen Umgang seiner Beförderung schaden; indeß ließ sich Schleiermacher da¬
durch nicht anfechten. Freilich gesteht er einmal November 1798 : „Wenn ich
die Herz hätte heirathen können, ich glaube, das hätte eine capitale Ehe
werden müssen, es müßte denn sein, daß sie gar zu einträchtig geworden wäre.
Es macht mir oft ein trauriges Vergnügen zu denken, welche Menschen zu¬
sammen gepaßt haben würden, indem oft, wenn man drei oder vier Paar
zusammennimmt, recht gute Ehen entstehen könnten, wenn sie tauschen dürften."
^ Aber: „Es liegt sehr tief in meiner Natur, daß ich mich immer
genauer an Frauen anschließen werde, als an Männer; denn es ist


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[0307] dahin, daß ich glaubte, ich mühte ebenso bescheiden gegen Volkslehre sein; nie habe ich mir es können erlauben, den Artikel von der Gottheit Jesu und seiner Versöhnung zu bestreiten, weil ich aus der Kirchengeschichte und aus eigner Erfahrung an anderen Menschen wußte, daß diese Lehre vom Entstehen des Christenthums an Millionen Menschen Trost und Lebensbesserung gegeben hatte, und pflegte sie auch allemal, wo es das Thema erlaubte, obschon ich selbst nicht von ihrer Wahrheit überzeugt war, aus Moralität und Liebe gegen Gott und Menschen anzuwenden. Ich wünschte, wenn Du auch von der Rechimüßigkeit dieses Verfahrens Dich nicht überzeugen kannst, daß Du wenig¬ stens doch jene Lehre nie öffentlich bestreiten möchtest." Wie wenig Boden die Rechtgläubigkeit im innersten Kern seiner Bildung hatte, zeigt noch mehr bald darauf das Lob, daß er über Fichtes Kritik aller Offenbarung ausspricht; fortan ist von beiden Seiten der Gedankenaustausch ganz offen und unum¬ wunden. Schleiermacher scheut sich auch nicht zu gestehen, daß er die fran¬ zösische Revolution im Ganzen genommen sehr liebt, abgesehen von dein, was Leidenschaften und überspannte Begriffe daran gethan haben. Im Oktober 17i)4 starb der Vater, von dem Sohn aufrichtig und herzlich betrauert; seine nächste Vertraute blieb jetzt seine Schwester Charlotte, die, obgleich für sich strenge Herrnhuterin, doch den Gedanken und Gemüthsbewegungen ihres Bruders mit inniger Theilnahme folgte. In Landsberg blieb Schleiermacher bis 1796, wo er als Charit6- prediger nach Berlin berufen wurde. Hier fand er seinen alten Freund Gustav v. Brinkmann wieder, der ihn in die Zirkel der geistvollen Jüdinnen, da¬ mals die beste Gesellschaft Berlins, einführte. Mit der schönen Henriette Herz entspann sich bald ein Freundschaftsverhültniß von einer seltenen Innigkeit und Vertraulichkeit, das aber nie ins Gebiet der Leidenschaft über¬ spielte, wenn ihn auch selbst seine Freunde im Verdacht hatten. „Daß ge¬ wöhnliche Menschen," schreibt Schleiermacher 30. Mai 1793 an seine Schwester, „von gewöhnlichen Menschen glauben, Mann und Frau könnten nicht vertraut sein, ohne leidenschaftlich und verliebt zu werden, das ist ganz in der Ord¬ nung, aber meine nächsten Freunde!" Auch Sack warnte ihn. er könne durch diesen Umgang seiner Beförderung schaden; indeß ließ sich Schleiermacher da¬ durch nicht anfechten. Freilich gesteht er einmal November 1798 : „Wenn ich die Herz hätte heirathen können, ich glaube, das hätte eine capitale Ehe werden müssen, es müßte denn sein, daß sie gar zu einträchtig geworden wäre. Es macht mir oft ein trauriges Vergnügen zu denken, welche Menschen zu¬ sammen gepaßt haben würden, indem oft, wenn man drei oder vier Paar zusammennimmt, recht gute Ehen entstehen könnten, wenn sie tauschen dürften." ^ Aber: „Es liegt sehr tief in meiner Natur, daß ich mich immer genauer an Frauen anschließen werde, als an Männer; denn es ist 38*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/307>, abgerufen am 23.07.2024.