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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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empfindet er noch, daß er beim Arbeiten nicht stetig sein kann. "Das Studiren,"
schreibt er an seinen Vater Decbr. 1789, "ist bei mir zu leidenschaftlich; alles
was ich vornehme, geschieht mit einer gewissen Vehemenz. Bald liegt mir ein
großer Theil der Philosophie am Herzen, ich forsche nach seiner Geschichte, gehe
alle verschiedenen Meinungen durch und sehe, was darin haltbar oder unhaltbar,
consequent oder inconsequent ist. Hierbei hat mich vielleicht irgend etwas
auf einen Zeitpunkt der Geschichte oder auf eine philologische Streitsrage auf¬
merksam gemacht, und sobald jene Untersuchung geendigt ist, wende ich mich
mit gleichem Eifer zu dieser. So wechseln praktische und theoretische Philo¬
sophie beständig miteinander ab. Gegenwärtig bin ich seit einiger Zeit mit
einer gründlichen Revision meiner eigentlich theologischen Kenntnisse beschäftigt,
Diese ganze Art zu studiren hat vielleicht wie jede andre, ihre Fehler, aber auch
ihre unleugbaren Vorzüge; man wird nicht so durch, die Menge ganz ver-
schiedner Gegenstände ganz zerstreut und verwirrt, und da man immer durch
ein gewisses Bedürfniß, durch irgend eine Lücke, die man in seinen Kennt¬
nissen gewahr wird, zu seinen Beschäftigungen getrieben wird, so thut man alles
cou amore und läuft nicht Gefahr, um der festgesetzten Ordnung willen einen Theil
seiner Zeit auf etwas zu wenden, was man nicht nöthig hat." Das anfänglich
sehr verstimmte Verhältniß zwischen Sohn und Vater nimmt allmälig einen
freundlichern Ton an, und wir lernen den alten Herrn, über dessen Recht-
gläubigkeit wir im Anfang erschrocken, von menschlicher Seite lieben. Er be¬
klagt sich Mai 1790, daß sein Sohn ihm sein Zutrauen entzieht und ihn
unter die Zahl der finstern Vater rechnet,, welche die Freude des Alters sich da¬
durch verderben, daß sie nicht mit Kindern Kinder, und mit Jünglingen Jüng¬
linge sein können. "Glaubst Du denn Deinem treuen, Dich zärtlich liebenden
Vater in seinem Alter Freude zu machen, wenn Du fortfährst entweder aus
einer eng-I-Meirwu Schüchternheit, die man ganz falsch mit dem Namen kind¬
licher Ehrfurcht belegt, oder, welches schlimmer wäre und welches ich doch nennen
muß, Hgleich Du es ungern hörst, aus Egoismus Deinem liebenden, menschlichen
und nie die Menschheit verkennenden Vater in Dir den angenehmen Jüngling zu
verbergen, den gesetzten Mann vorzuspiegeln, und ihn dadurch so mancher Herzens¬
freude zu berauben." Er hofft instünftige auf natürlichere und offnere Briefe.
Auch über seine Religiösität gibt er überraschende Aufschlüsse. "Ich wünschte,
daß Du mit Nachdenken Lessings Erziehung des Menschengeschlechts lesen
wolltest; da würdest Du über verschiedene Dinge dir lichtvolle Ideen ver¬
schaffen; und dann will ich Dir von mir selbst ein Beispiel, ob es Deiner
Nachahmung werth ist, zur Untersuchung empfehlen. Ich habe wenigstens
zwölf Jahr lang als ein wirklich Ungläubiger gepredigt; ich war völlig da¬
mals überzeugt, daß Jesus in seinen Reden sich den Vorstellungen und selbst
den Vorurtheilen der Juden accommodirt hätte; aber diese Meinung leitete mich


empfindet er noch, daß er beim Arbeiten nicht stetig sein kann. „Das Studiren,"
schreibt er an seinen Vater Decbr. 1789, „ist bei mir zu leidenschaftlich; alles
was ich vornehme, geschieht mit einer gewissen Vehemenz. Bald liegt mir ein
großer Theil der Philosophie am Herzen, ich forsche nach seiner Geschichte, gehe
alle verschiedenen Meinungen durch und sehe, was darin haltbar oder unhaltbar,
consequent oder inconsequent ist. Hierbei hat mich vielleicht irgend etwas
auf einen Zeitpunkt der Geschichte oder auf eine philologische Streitsrage auf¬
merksam gemacht, und sobald jene Untersuchung geendigt ist, wende ich mich
mit gleichem Eifer zu dieser. So wechseln praktische und theoretische Philo¬
sophie beständig miteinander ab. Gegenwärtig bin ich seit einiger Zeit mit
einer gründlichen Revision meiner eigentlich theologischen Kenntnisse beschäftigt,
Diese ganze Art zu studiren hat vielleicht wie jede andre, ihre Fehler, aber auch
ihre unleugbaren Vorzüge; man wird nicht so durch, die Menge ganz ver-
schiedner Gegenstände ganz zerstreut und verwirrt, und da man immer durch
ein gewisses Bedürfniß, durch irgend eine Lücke, die man in seinen Kennt¬
nissen gewahr wird, zu seinen Beschäftigungen getrieben wird, so thut man alles
cou amore und läuft nicht Gefahr, um der festgesetzten Ordnung willen einen Theil
seiner Zeit auf etwas zu wenden, was man nicht nöthig hat." Das anfänglich
sehr verstimmte Verhältniß zwischen Sohn und Vater nimmt allmälig einen
freundlichern Ton an, und wir lernen den alten Herrn, über dessen Recht-
gläubigkeit wir im Anfang erschrocken, von menschlicher Seite lieben. Er be¬
klagt sich Mai 1790, daß sein Sohn ihm sein Zutrauen entzieht und ihn
unter die Zahl der finstern Vater rechnet,, welche die Freude des Alters sich da¬
durch verderben, daß sie nicht mit Kindern Kinder, und mit Jünglingen Jüng¬
linge sein können. „Glaubst Du denn Deinem treuen, Dich zärtlich liebenden
Vater in seinem Alter Freude zu machen, wenn Du fortfährst entweder aus
einer eng-I-Meirwu Schüchternheit, die man ganz falsch mit dem Namen kind¬
licher Ehrfurcht belegt, oder, welches schlimmer wäre und welches ich doch nennen
muß, Hgleich Du es ungern hörst, aus Egoismus Deinem liebenden, menschlichen
und nie die Menschheit verkennenden Vater in Dir den angenehmen Jüngling zu
verbergen, den gesetzten Mann vorzuspiegeln, und ihn dadurch so mancher Herzens¬
freude zu berauben." Er hofft instünftige auf natürlichere und offnere Briefe.
Auch über seine Religiösität gibt er überraschende Aufschlüsse. „Ich wünschte,
daß Du mit Nachdenken Lessings Erziehung des Menschengeschlechts lesen
wolltest; da würdest Du über verschiedene Dinge dir lichtvolle Ideen ver¬
schaffen; und dann will ich Dir von mir selbst ein Beispiel, ob es Deiner
Nachahmung werth ist, zur Untersuchung empfehlen. Ich habe wenigstens
zwölf Jahr lang als ein wirklich Ungläubiger gepredigt; ich war völlig da¬
mals überzeugt, daß Jesus in seinen Reden sich den Vorstellungen und selbst
den Vorurtheilen der Juden accommodirt hätte; aber diese Meinung leitete mich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/306>, abgerufen am 23.07.2024.