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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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ruhenden Verhältnisses auf jede feinfühlende Seele machen, so hätten wir uns
doch grade hier einige Abkürzungen gern gefallen lassen.

Wir versuchen nun, nach der Anleitung dieser Briefe einzelne Momente
seines Lebens zu charakterisieren.

Schleiermacher war 21. Nov. 17 68 zu Breslau geboren, wo sich sein
Vater als reformirter Feldprediger aushielt. 1778 zogen die Eltern nach der
Colonie Anhalt, und lernten einige Zeit darauf die Erziehungsanstalt der
Brüdergemeinde zu Niesky in der Oberlausitz kennen, der sie ihren Sohn 1783
anvertrauten. "Hier wurde der Grund zu einer Herrschaft der Phantasie in
Sachen der Religion gelegt, die mich bei etwas weniger Kaltblütigkeit wahr¬
scheinlich zu einem Schwärmer gemacht haben würde, der ich es aber ver¬
danke, daß ich meine Denkungsart, die sich bei den meisten Menschen unver¬
merkt aus Theorie und Beobachtung bildet, weit lebendiger als das Resul¬
tat und den Abdruck meiner eignen Gefühle ansehen kann. Ich hatte schon
mancherlei religiöse Kämpfe bestanden. Die Lehre von den unendlichen Stra¬
fen und Belohnungen hatte schon meine kindliche Phantasie auf eine äußerst
beängstigende Art beschäftigt, und in meinem elften Jahre kostete es mich
mehre schlaflose Nächte, daß ich bei der Berechnung des Verhältnisses zwischen
den Leiden Christi und der Strafe, deren Stelle dieselben vertreten sollen,
kein beruhigendes Facit bekommen konnte. Jetzt ging ein neuer Kampf an,
der durch die Art, wie die Lehre von dem natürlichen Verderben und den
übernatürlichen Gnadenwirkungen in der Brüdergemeinde behandelt und fast
in jeden Vortrag verwebt wird, veranlaßt wurde und fast so lange gedauert
hat. als ich ein Mitglied derselben gewesen bin. Meine eigne Erfahrung
gab mir zu den ersten dieser beiden Hauptstützen des ascetisch-mystischen Sy¬
stems Belege genug und ich kam bald dahin, daß mir jede gute Handlung
als verdächtig oder als ein bloßes Werk der Umstände erschien. So war ich
also in dem qualvollen Zustande, den man unsern Reformatoren so häufig
als ihr Werk vorwirft: es war mir etwas genommen, meine Ueberzeugung
von dem eignen moralischen Vermögen des Menschen, und noch nichts zum
Ersatze gegeben. Denn vergeblich rang ich nach den übernatürlichen Gefüh¬
len, von deren Nothwendigkeit mich jeder Blick auf mich selbst mit Hinsicht
auf die Lehre von dem künftigen Vergeltungszustande überzeugte, von deren
Wirklichkeit außer mir auch jeder Vortrag und jeder Gesang, ja jeder Anblick
dieser bei einer solchen Stimmung so einnehmenden Menschen überredete und
die nur von mir zu fliehen schienen. Denn wenn ich auch einen Schatten
davon erhascht zu haben glaubte, so zeigte es sich doch bald als mein eig¬
nes Werk, als eine unfruchtbare Anstrengung meiner Phantasie. Daß ich bei
diesem Zustande eine unerschütterliche Anhänglichkeit an die Brüdergemeinde
bekam, und es für ein großes Unglück angesehen hätte, kein Mitglied derselben


ruhenden Verhältnisses auf jede feinfühlende Seele machen, so hätten wir uns
doch grade hier einige Abkürzungen gern gefallen lassen.

Wir versuchen nun, nach der Anleitung dieser Briefe einzelne Momente
seines Lebens zu charakterisieren.

Schleiermacher war 21. Nov. 17 68 zu Breslau geboren, wo sich sein
Vater als reformirter Feldprediger aushielt. 1778 zogen die Eltern nach der
Colonie Anhalt, und lernten einige Zeit darauf die Erziehungsanstalt der
Brüdergemeinde zu Niesky in der Oberlausitz kennen, der sie ihren Sohn 1783
anvertrauten. „Hier wurde der Grund zu einer Herrschaft der Phantasie in
Sachen der Religion gelegt, die mich bei etwas weniger Kaltblütigkeit wahr¬
scheinlich zu einem Schwärmer gemacht haben würde, der ich es aber ver¬
danke, daß ich meine Denkungsart, die sich bei den meisten Menschen unver¬
merkt aus Theorie und Beobachtung bildet, weit lebendiger als das Resul¬
tat und den Abdruck meiner eignen Gefühle ansehen kann. Ich hatte schon
mancherlei religiöse Kämpfe bestanden. Die Lehre von den unendlichen Stra¬
fen und Belohnungen hatte schon meine kindliche Phantasie auf eine äußerst
beängstigende Art beschäftigt, und in meinem elften Jahre kostete es mich
mehre schlaflose Nächte, daß ich bei der Berechnung des Verhältnisses zwischen
den Leiden Christi und der Strafe, deren Stelle dieselben vertreten sollen,
kein beruhigendes Facit bekommen konnte. Jetzt ging ein neuer Kampf an,
der durch die Art, wie die Lehre von dem natürlichen Verderben und den
übernatürlichen Gnadenwirkungen in der Brüdergemeinde behandelt und fast
in jeden Vortrag verwebt wird, veranlaßt wurde und fast so lange gedauert
hat. als ich ein Mitglied derselben gewesen bin. Meine eigne Erfahrung
gab mir zu den ersten dieser beiden Hauptstützen des ascetisch-mystischen Sy¬
stems Belege genug und ich kam bald dahin, daß mir jede gute Handlung
als verdächtig oder als ein bloßes Werk der Umstände erschien. So war ich
also in dem qualvollen Zustande, den man unsern Reformatoren so häufig
als ihr Werk vorwirft: es war mir etwas genommen, meine Ueberzeugung
von dem eignen moralischen Vermögen des Menschen, und noch nichts zum
Ersatze gegeben. Denn vergeblich rang ich nach den übernatürlichen Gefüh¬
len, von deren Nothwendigkeit mich jeder Blick auf mich selbst mit Hinsicht
auf die Lehre von dem künftigen Vergeltungszustande überzeugte, von deren
Wirklichkeit außer mir auch jeder Vortrag und jeder Gesang, ja jeder Anblick
dieser bei einer solchen Stimmung so einnehmenden Menschen überredete und
die nur von mir zu fliehen schienen. Denn wenn ich auch einen Schatten
davon erhascht zu haben glaubte, so zeigte es sich doch bald als mein eig¬
nes Werk, als eine unfruchtbare Anstrengung meiner Phantasie. Daß ich bei
diesem Zustande eine unerschütterliche Anhänglichkeit an die Brüdergemeinde
bekam, und es für ein großes Unglück angesehen hätte, kein Mitglied derselben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/303>, abgerufen am 22.07.2024.