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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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verkehr mit verschiedenen Bevölkerungsclasscn verschiedener Staaten auffallend
öfters als früher einer Bemerkung, welche von hoher Wichtigkeit erscheint.
Nämlich der. daß dort, wo die Auswanderung numerisch vermindert auftritt,
die Auswanderer zum großen Theil keineswegs mehr der eigentlichen Armen¬
bevölkerung angehören, sondern aus ziemlich gesicherten Verhältnissen in die
Unsicherheit der transatlantischen Zukunft hinaustreten. Besonders scheint dies
von den Auswanderern bäuerlichen Standes zu gelten, und hier wieder vor¬
zugsweise von solchen Gegenden, welche entweder von den modernen Ver¬
kehrsmitteln unberührt blieben, oder in denen der Feudalismus unerwartet
zu neuer Kraft gelangte. In Mecklenburg haben nun nicht erst die neuesten
Enthüllungen der deutschen Presse über die Bauernzustände, sondern bereits
seit Jahren wiederholt die Landtagsverhandlungen unwiderleglich nachgewie¬
sen, daß die dortigen Gewerbe-, Ansessigmachungs- und Heirathsgesetze, so
wie der krasse Feudalismus die fast ausschließlichen Ursachen der Landes¬
entvölkerung und erschreckenden Entsittlichung sind. Ist es nun nicht erlaubt,
diese Erfahrungen allgemeiner anzuwenden, da wir sehen, daß seit 1855 die
Quellen der Auswanderung grade in solchen Provinzen Deutschlands sich auf¬
thaten, in denen die verheißene Entäußerung der ritterschaftlichen Güter von
der Polizeigewalt oder Patrimonialgerichtsbarkeit nicht eintrat, grade in solchen
Ländern, wo das Zunft- und Innungswesen sich wieder verschärfte, grade
da, wo die praktische Theologie sich in der Steigerung des Kirchenregiments
gefiel? Arbeitsmangel, Theurung, Noth sind keine genügende Erklärung, wenn
man die letzten drei Jahre speciell ins Auge faßt. Erwiesenermaßen übersteigt
nämlich in der wieder anwachsenden Gesammtmasse der Auswanderer die Zahl
der Ackerbauer alle andern Stände zusammengenommen fast um das Doppelte.
Die Landwirthschaft hat aber (Weinbau ausgenommen) seit zehn Jahren fast
ununterbrochen glänzende Geschäfte gemacht und erst seit 1854 für die Be¬
arbeitung des Bodens wesentlich höhere Preise anlegen müssen, da überall
Mangel an Arbeitskräften eingetreten war. Grade dieser Umstand glich jedoch
(1857 und 58 für die Grundbesitzer sehr empfindlich werdend) im ländlichen
Proletariat die materiellen Uebelstände großentheils wieder aus. unter denen
dasselbe durch die steigende Entwerthung der Arbeit allerdings lange genug
gelitten hatte. Derselbe Mangel an Arbeitskräften und dieselbe Lohnerhöhung
hat nun auch bei den meisten Handwerkern stattgefunden, und zwar ganz be¬
sonders bei den Bauhandwerker, welche in der Auswanderung (nach Nord¬
amerika) relativ von jeher stärker vertreten waren, als die Vekleidungs- und
die Lebensmittelarbeiter (Fleischer, Bäcker, Müller ze.). Hier überall genügen
also die landläufigen Erklärungen des Wiederanschwellens der Auswanderung
seit-1855 nicht entfernt.

Wir unsererseits können auch diesen Erklärungen nicht weiter nachgehen.


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verkehr mit verschiedenen Bevölkerungsclasscn verschiedener Staaten auffallend
öfters als früher einer Bemerkung, welche von hoher Wichtigkeit erscheint.
Nämlich der. daß dort, wo die Auswanderung numerisch vermindert auftritt,
die Auswanderer zum großen Theil keineswegs mehr der eigentlichen Armen¬
bevölkerung angehören, sondern aus ziemlich gesicherten Verhältnissen in die
Unsicherheit der transatlantischen Zukunft hinaustreten. Besonders scheint dies
von den Auswanderern bäuerlichen Standes zu gelten, und hier wieder vor¬
zugsweise von solchen Gegenden, welche entweder von den modernen Ver¬
kehrsmitteln unberührt blieben, oder in denen der Feudalismus unerwartet
zu neuer Kraft gelangte. In Mecklenburg haben nun nicht erst die neuesten
Enthüllungen der deutschen Presse über die Bauernzustände, sondern bereits
seit Jahren wiederholt die Landtagsverhandlungen unwiderleglich nachgewie¬
sen, daß die dortigen Gewerbe-, Ansessigmachungs- und Heirathsgesetze, so
wie der krasse Feudalismus die fast ausschließlichen Ursachen der Landes¬
entvölkerung und erschreckenden Entsittlichung sind. Ist es nun nicht erlaubt,
diese Erfahrungen allgemeiner anzuwenden, da wir sehen, daß seit 1855 die
Quellen der Auswanderung grade in solchen Provinzen Deutschlands sich auf¬
thaten, in denen die verheißene Entäußerung der ritterschaftlichen Güter von
der Polizeigewalt oder Patrimonialgerichtsbarkeit nicht eintrat, grade in solchen
Ländern, wo das Zunft- und Innungswesen sich wieder verschärfte, grade
da, wo die praktische Theologie sich in der Steigerung des Kirchenregiments
gefiel? Arbeitsmangel, Theurung, Noth sind keine genügende Erklärung, wenn
man die letzten drei Jahre speciell ins Auge faßt. Erwiesenermaßen übersteigt
nämlich in der wieder anwachsenden Gesammtmasse der Auswanderer die Zahl
der Ackerbauer alle andern Stände zusammengenommen fast um das Doppelte.
Die Landwirthschaft hat aber (Weinbau ausgenommen) seit zehn Jahren fast
ununterbrochen glänzende Geschäfte gemacht und erst seit 1854 für die Be¬
arbeitung des Bodens wesentlich höhere Preise anlegen müssen, da überall
Mangel an Arbeitskräften eingetreten war. Grade dieser Umstand glich jedoch
(1857 und 58 für die Grundbesitzer sehr empfindlich werdend) im ländlichen
Proletariat die materiellen Uebelstände großentheils wieder aus. unter denen
dasselbe durch die steigende Entwerthung der Arbeit allerdings lange genug
gelitten hatte. Derselbe Mangel an Arbeitskräften und dieselbe Lohnerhöhung
hat nun auch bei den meisten Handwerkern stattgefunden, und zwar ganz be¬
sonders bei den Bauhandwerker, welche in der Auswanderung (nach Nord¬
amerika) relativ von jeher stärker vertreten waren, als die Vekleidungs- und
die Lebensmittelarbeiter (Fleischer, Bäcker, Müller ze.). Hier überall genügen
also die landläufigen Erklärungen des Wiederanschwellens der Auswanderung
seit-1855 nicht entfernt.

Wir unsererseits können auch diesen Erklärungen nicht weiter nachgehen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/275>, abgerufen am 22.07.2024.