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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Wege. Ich verglich die Sprüche der Propheten mit den Orakeln im Herodot;
da ich fand, daß die Orakel, die dieser Geschichtschreiber im 5. I. v.Chr. als
allgemein bekannt seinen griechischen Zuhörern öffentlich zu erzählen wagen
durfte, mit ihrer Bildersprache zu den Abgeordneten aller Stämme, zum einen
wie zum andern redeten, und daß die unverwerflichsten Fragmente der ältern
griechischen Philosophen bildlichen und symbolischen Charakter hatten, so er¬
gab sich das Resultat: Allegorie und Bildersprache sei ein allgemeines Organ
der uns bekannten orientalischen und griechischen Vorwelt gewesen. Die Mythen
und Sagen der einzelnen Stämme sind nur unwesentliche Varietäten und Mund¬
arten einer ursprünglichen allgemeinen Muttersprache d. h. der orientalisch
bildlichen." -- "Die älteste Philosophie stellt, was wir mit Blumenbach den
Vildungstrieb nennen, als handelnde Person dar, und die Schellingsche Welt¬
seele als ein mit Bewußtsein und Willen ausgerüstetes Wesen. Schon früh
'waren mir, wenn ich in den anmuthigen Umgebungen meiner Vaterstadt ein¬
sam wanderte, die wechselnden Erscheinungen der Natur als Lebensmomente
eines beseelten, fühlenden Wesens erschienen, und in dem Flügelschlag des
ängstlichen Zwiefalters sah ich die Pulse des ewig sich verwandelnden Demi-
urgen . . . Jederzeit sind mir die Mythen als ewig perennirende Pflanzen
erschienen, die jedes Jahr wiederkommen und nur eines Gärtners bedürfen,
der sie wartet und zu einem Kranze flicht. In diesem Gefühl habe ich meine
mythologischen Vorlesungen jedes Jahr ganz neu geben müssen. Wenn auch
die Hauptgrundsätze dieselben blieben, so gab es doch in der Darstellungs¬
weise nichts Stationäres, sondern der mythologische Körper mußte jedesmal in
andern Lagen gezeigt und auf eine andere Weise wieder beseelt werden, wobei der
geistige Blick bald Heller, bald trüber und die Auffassungsweise und Stimmung
mehr oder minder günstig waren. -- Ist nun jene poetische Betrachtungsart der
Natur des Menschen ein Traum, so haben ihn die edelsten und geistreichsten
Völker der Vorwelt geträumt. Allen ihren Gedichten und Gebilden liegt er
zu Grunde; auf Vasen. Reliefs, Münzen und geschnittenen Steinen findet sich
diese Anschauungsweise verkörpert. -- Das Hauptgeschäft, welches den Mytho-
logen macht, beruht nicht auf der geschichtlichen Kritik, die freilich unerläßlich
ist, sondern auf einer Apperception, die-man weder lehren noch erhitzen kann,
sondern die von einem geistigen Organismus bedingt ist, nicht unähnlich dem.
welcher den Dichter schafft."") -- Diese Ideen, welche in der Wissenschaft eine



') 1822 legt er folgendes Glaubensbekenntnis; ab: "Mag es auch dem Humanisten zu
wünschen gestattet sein, daß es dem großen Erasmus gelungen sein möchte, eine Reformation
auf friedlicherem Wege zu bewirken; und fühle ich mich auch zu dem milden und gelehrten
Melanchthon mehr hingezogen, als zu dem strengen Luther, so erfreue ich mich doch der Er¬
gebnisse dieser Kirchenvcränderung im Ganzen, und gedenke im evangelisch protestantischen
Glauben serner zu leben und auch zu sterben." Noch einmal kam er 1S46 in "Luther und
Grotius. oder Glaube und Wissenschaft," aus diesen Punkt zurück.

Wege. Ich verglich die Sprüche der Propheten mit den Orakeln im Herodot;
da ich fand, daß die Orakel, die dieser Geschichtschreiber im 5. I. v.Chr. als
allgemein bekannt seinen griechischen Zuhörern öffentlich zu erzählen wagen
durfte, mit ihrer Bildersprache zu den Abgeordneten aller Stämme, zum einen
wie zum andern redeten, und daß die unverwerflichsten Fragmente der ältern
griechischen Philosophen bildlichen und symbolischen Charakter hatten, so er¬
gab sich das Resultat: Allegorie und Bildersprache sei ein allgemeines Organ
der uns bekannten orientalischen und griechischen Vorwelt gewesen. Die Mythen
und Sagen der einzelnen Stämme sind nur unwesentliche Varietäten und Mund¬
arten einer ursprünglichen allgemeinen Muttersprache d. h. der orientalisch
bildlichen." — „Die älteste Philosophie stellt, was wir mit Blumenbach den
Vildungstrieb nennen, als handelnde Person dar, und die Schellingsche Welt¬
seele als ein mit Bewußtsein und Willen ausgerüstetes Wesen. Schon früh
'waren mir, wenn ich in den anmuthigen Umgebungen meiner Vaterstadt ein¬
sam wanderte, die wechselnden Erscheinungen der Natur als Lebensmomente
eines beseelten, fühlenden Wesens erschienen, und in dem Flügelschlag des
ängstlichen Zwiefalters sah ich die Pulse des ewig sich verwandelnden Demi-
urgen . . . Jederzeit sind mir die Mythen als ewig perennirende Pflanzen
erschienen, die jedes Jahr wiederkommen und nur eines Gärtners bedürfen,
der sie wartet und zu einem Kranze flicht. In diesem Gefühl habe ich meine
mythologischen Vorlesungen jedes Jahr ganz neu geben müssen. Wenn auch
die Hauptgrundsätze dieselben blieben, so gab es doch in der Darstellungs¬
weise nichts Stationäres, sondern der mythologische Körper mußte jedesmal in
andern Lagen gezeigt und auf eine andere Weise wieder beseelt werden, wobei der
geistige Blick bald Heller, bald trüber und die Auffassungsweise und Stimmung
mehr oder minder günstig waren. — Ist nun jene poetische Betrachtungsart der
Natur des Menschen ein Traum, so haben ihn die edelsten und geistreichsten
Völker der Vorwelt geträumt. Allen ihren Gedichten und Gebilden liegt er
zu Grunde; auf Vasen. Reliefs, Münzen und geschnittenen Steinen findet sich
diese Anschauungsweise verkörpert. — Das Hauptgeschäft, welches den Mytho-
logen macht, beruht nicht auf der geschichtlichen Kritik, die freilich unerläßlich
ist, sondern auf einer Apperception, die-man weder lehren noch erhitzen kann,
sondern die von einem geistigen Organismus bedingt ist, nicht unähnlich dem.
welcher den Dichter schafft."») — Diese Ideen, welche in der Wissenschaft eine



') 1822 legt er folgendes Glaubensbekenntnis; ab: „Mag es auch dem Humanisten zu
wünschen gestattet sein, daß es dem großen Erasmus gelungen sein möchte, eine Reformation
auf friedlicherem Wege zu bewirken; und fühle ich mich auch zu dem milden und gelehrten
Melanchthon mehr hingezogen, als zu dem strengen Luther, so erfreue ich mich doch der Er¬
gebnisse dieser Kirchenvcränderung im Ganzen, und gedenke im evangelisch protestantischen
Glauben serner zu leben und auch zu sterben." Noch einmal kam er 1S46 in „Luther und
Grotius. oder Glaube und Wissenschaft," aus diesen Punkt zurück.
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[0263] Wege. Ich verglich die Sprüche der Propheten mit den Orakeln im Herodot; da ich fand, daß die Orakel, die dieser Geschichtschreiber im 5. I. v.Chr. als allgemein bekannt seinen griechischen Zuhörern öffentlich zu erzählen wagen durfte, mit ihrer Bildersprache zu den Abgeordneten aller Stämme, zum einen wie zum andern redeten, und daß die unverwerflichsten Fragmente der ältern griechischen Philosophen bildlichen und symbolischen Charakter hatten, so er¬ gab sich das Resultat: Allegorie und Bildersprache sei ein allgemeines Organ der uns bekannten orientalischen und griechischen Vorwelt gewesen. Die Mythen und Sagen der einzelnen Stämme sind nur unwesentliche Varietäten und Mund¬ arten einer ursprünglichen allgemeinen Muttersprache d. h. der orientalisch bildlichen." — „Die älteste Philosophie stellt, was wir mit Blumenbach den Vildungstrieb nennen, als handelnde Person dar, und die Schellingsche Welt¬ seele als ein mit Bewußtsein und Willen ausgerüstetes Wesen. Schon früh 'waren mir, wenn ich in den anmuthigen Umgebungen meiner Vaterstadt ein¬ sam wanderte, die wechselnden Erscheinungen der Natur als Lebensmomente eines beseelten, fühlenden Wesens erschienen, und in dem Flügelschlag des ängstlichen Zwiefalters sah ich die Pulse des ewig sich verwandelnden Demi- urgen . . . Jederzeit sind mir die Mythen als ewig perennirende Pflanzen erschienen, die jedes Jahr wiederkommen und nur eines Gärtners bedürfen, der sie wartet und zu einem Kranze flicht. In diesem Gefühl habe ich meine mythologischen Vorlesungen jedes Jahr ganz neu geben müssen. Wenn auch die Hauptgrundsätze dieselben blieben, so gab es doch in der Darstellungs¬ weise nichts Stationäres, sondern der mythologische Körper mußte jedesmal in andern Lagen gezeigt und auf eine andere Weise wieder beseelt werden, wobei der geistige Blick bald Heller, bald trüber und die Auffassungsweise und Stimmung mehr oder minder günstig waren. — Ist nun jene poetische Betrachtungsart der Natur des Menschen ein Traum, so haben ihn die edelsten und geistreichsten Völker der Vorwelt geträumt. Allen ihren Gedichten und Gebilden liegt er zu Grunde; auf Vasen. Reliefs, Münzen und geschnittenen Steinen findet sich diese Anschauungsweise verkörpert. — Das Hauptgeschäft, welches den Mytho- logen macht, beruht nicht auf der geschichtlichen Kritik, die freilich unerläßlich ist, sondern auf einer Apperception, die-man weder lehren noch erhitzen kann, sondern die von einem geistigen Organismus bedingt ist, nicht unähnlich dem. welcher den Dichter schafft."») — Diese Ideen, welche in der Wissenschaft eine ') 1822 legt er folgendes Glaubensbekenntnis; ab: „Mag es auch dem Humanisten zu wünschen gestattet sein, daß es dem großen Erasmus gelungen sein möchte, eine Reformation auf friedlicherem Wege zu bewirken; und fühle ich mich auch zu dem milden und gelehrten Melanchthon mehr hingezogen, als zu dem strengen Luther, so erfreue ich mich doch der Er¬ gebnisse dieser Kirchenvcränderung im Ganzen, und gedenke im evangelisch protestantischen Glauben serner zu leben und auch zu sterben." Noch einmal kam er 1S46 in „Luther und Grotius. oder Glaube und Wissenschaft," aus diesen Punkt zurück.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/263>, abgerufen am 23.07.2024.