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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Nation erst ein Begriff von dem'Unterschied zwischen Barbarei und Gesittung
beigebracht werden mußte. Sodann zeigt ein Vergleich zwischen heute und
vor zwanzig Jahren, daß in der That, namentlich im Schulwesen und aus
dem Gebiet des Handels, beträchtliche Fortschritte gemacht wurden. Ferner
hat man in Rechnung zu bringen, daß das Land im Vergleich mit andern
Strichen von Natur arm ist, daß die gründliche Verwüstung des Peloponnes
durch die Aegypter Ibrahim Paschas auch von Bewohnern mit nordischer
Arbeitskraft bis jetzt noch nicht ganz hätte ausgeglichen werden können, und
daß für Fabriken die geeignete Kohle und -- wie der außerordentlich hohe
Arbeitslohn selbst sür Feldarbeiter zeigt -- die Menschen fehlen.

Was dadurch nicht entschuldigt wird, mag auf die hochfligende Sinnes¬
art des Volkes, die lieber sich den Ehre verheißenden Studien als der Hand¬
arbeit widmet, die jeden, der es irgend vermag, nach der Hauptstadt führt,
und darauf gerechnet werden, daß die Negierung einestheils von den West¬
mächten gehindert, anderntheils von der Volksstimme an den nothwendigen
Verbesserungen vorübergedrüngt wurde. Jene wünschten kein Aufkommen des
neuen Staates zu Macht und Wohlstand, weil darin eine Bedrohung der
Türkei lag, in welcher Millionen von Augen auf Athen blicken. Die Volks¬
stimme ihrerseits war weniger dankbar für materielle Verbesserungen, als für
Maßregeln, die auf Verwirklichung der großgriechischen Idee, auf Vereinigung
aller Griechen, aller orthodoxen Gläubigen der illyrischen Halbinsel unter
einem politischem Oberhaupt abzielten. Man hatte Jahrhunderte hindurch
alle seine Energie darauf verwendet, damit erschöpft, daß man nicht völlig
vom Türkenthum verschlungen wurde. Man hatte sich daran gewöhnt, alles
Andere dieser Vertheidigung unterzuordnen. Jetzt schien die Zeit zum Angriffe,
zur Eroberung gekommen, und für diesen Zweck stellte jeder gern seine Wünsche
nach Hebung des Ackerbaus und der Industrie, nach guten Straßen und
andern Aenderungen im alten Schlendrian zurück.

Was sich auch dadurch nicht erklärt -- und es bleibt davon ein beträcht¬
licher Rest -- muß allerdings auf das Ungeschick der Regierenden und auf
die Nachwehen des türkischen Phlegmas unter den Regierten gerechnet werden.

Ich habe vorhin einiges von dem zusammengestellt, worin man die alten
Hellenen nicht erkennt. Es gibt aber auch Vergleichspunkte, in denen die
Vergangenheit durch die Gegenwart hindurchscheint, wenn die Ähnlichkeit
auch erst mit einiger Anstrengung, durch den Verstand, nicht durch unmittel¬
bares Gefühl zum Vorschein kommt, und wenn-sie auch nicht immer grade
solche Züge betrifft, die den heutigen Griechen zur Ehre gereichen.

Es ist hier zunächst zwischen den beiden Stämmen zu unterscheiden, in
welche die Bewohner des modernen Griechenland zerfallen. Mag der Umstand,
daß im ganzen Norden des Königreichs mit Ausnahme der Städte, auf mehren


Grenzboten III. 18S8. 22

Nation erst ein Begriff von dem'Unterschied zwischen Barbarei und Gesittung
beigebracht werden mußte. Sodann zeigt ein Vergleich zwischen heute und
vor zwanzig Jahren, daß in der That, namentlich im Schulwesen und aus
dem Gebiet des Handels, beträchtliche Fortschritte gemacht wurden. Ferner
hat man in Rechnung zu bringen, daß das Land im Vergleich mit andern
Strichen von Natur arm ist, daß die gründliche Verwüstung des Peloponnes
durch die Aegypter Ibrahim Paschas auch von Bewohnern mit nordischer
Arbeitskraft bis jetzt noch nicht ganz hätte ausgeglichen werden können, und
daß für Fabriken die geeignete Kohle und — wie der außerordentlich hohe
Arbeitslohn selbst sür Feldarbeiter zeigt — die Menschen fehlen.

Was dadurch nicht entschuldigt wird, mag auf die hochfligende Sinnes¬
art des Volkes, die lieber sich den Ehre verheißenden Studien als der Hand¬
arbeit widmet, die jeden, der es irgend vermag, nach der Hauptstadt führt,
und darauf gerechnet werden, daß die Negierung einestheils von den West¬
mächten gehindert, anderntheils von der Volksstimme an den nothwendigen
Verbesserungen vorübergedrüngt wurde. Jene wünschten kein Aufkommen des
neuen Staates zu Macht und Wohlstand, weil darin eine Bedrohung der
Türkei lag, in welcher Millionen von Augen auf Athen blicken. Die Volks¬
stimme ihrerseits war weniger dankbar für materielle Verbesserungen, als für
Maßregeln, die auf Verwirklichung der großgriechischen Idee, auf Vereinigung
aller Griechen, aller orthodoxen Gläubigen der illyrischen Halbinsel unter
einem politischem Oberhaupt abzielten. Man hatte Jahrhunderte hindurch
alle seine Energie darauf verwendet, damit erschöpft, daß man nicht völlig
vom Türkenthum verschlungen wurde. Man hatte sich daran gewöhnt, alles
Andere dieser Vertheidigung unterzuordnen. Jetzt schien die Zeit zum Angriffe,
zur Eroberung gekommen, und für diesen Zweck stellte jeder gern seine Wünsche
nach Hebung des Ackerbaus und der Industrie, nach guten Straßen und
andern Aenderungen im alten Schlendrian zurück.

Was sich auch dadurch nicht erklärt — und es bleibt davon ein beträcht¬
licher Rest — muß allerdings auf das Ungeschick der Regierenden und auf
die Nachwehen des türkischen Phlegmas unter den Regierten gerechnet werden.

Ich habe vorhin einiges von dem zusammengestellt, worin man die alten
Hellenen nicht erkennt. Es gibt aber auch Vergleichspunkte, in denen die
Vergangenheit durch die Gegenwart hindurchscheint, wenn die Ähnlichkeit
auch erst mit einiger Anstrengung, durch den Verstand, nicht durch unmittel¬
bares Gefühl zum Vorschein kommt, und wenn-sie auch nicht immer grade
solche Züge betrifft, die den heutigen Griechen zur Ehre gereichen.

Es ist hier zunächst zwischen den beiden Stämmen zu unterscheiden, in
welche die Bewohner des modernen Griechenland zerfallen. Mag der Umstand,
daß im ganzen Norden des Königreichs mit Ausnahme der Städte, auf mehren


Grenzboten III. 18S8. 22
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[0177] Nation erst ein Begriff von dem'Unterschied zwischen Barbarei und Gesittung beigebracht werden mußte. Sodann zeigt ein Vergleich zwischen heute und vor zwanzig Jahren, daß in der That, namentlich im Schulwesen und aus dem Gebiet des Handels, beträchtliche Fortschritte gemacht wurden. Ferner hat man in Rechnung zu bringen, daß das Land im Vergleich mit andern Strichen von Natur arm ist, daß die gründliche Verwüstung des Peloponnes durch die Aegypter Ibrahim Paschas auch von Bewohnern mit nordischer Arbeitskraft bis jetzt noch nicht ganz hätte ausgeglichen werden können, und daß für Fabriken die geeignete Kohle und — wie der außerordentlich hohe Arbeitslohn selbst sür Feldarbeiter zeigt — die Menschen fehlen. Was dadurch nicht entschuldigt wird, mag auf die hochfligende Sinnes¬ art des Volkes, die lieber sich den Ehre verheißenden Studien als der Hand¬ arbeit widmet, die jeden, der es irgend vermag, nach der Hauptstadt führt, und darauf gerechnet werden, daß die Negierung einestheils von den West¬ mächten gehindert, anderntheils von der Volksstimme an den nothwendigen Verbesserungen vorübergedrüngt wurde. Jene wünschten kein Aufkommen des neuen Staates zu Macht und Wohlstand, weil darin eine Bedrohung der Türkei lag, in welcher Millionen von Augen auf Athen blicken. Die Volks¬ stimme ihrerseits war weniger dankbar für materielle Verbesserungen, als für Maßregeln, die auf Verwirklichung der großgriechischen Idee, auf Vereinigung aller Griechen, aller orthodoxen Gläubigen der illyrischen Halbinsel unter einem politischem Oberhaupt abzielten. Man hatte Jahrhunderte hindurch alle seine Energie darauf verwendet, damit erschöpft, daß man nicht völlig vom Türkenthum verschlungen wurde. Man hatte sich daran gewöhnt, alles Andere dieser Vertheidigung unterzuordnen. Jetzt schien die Zeit zum Angriffe, zur Eroberung gekommen, und für diesen Zweck stellte jeder gern seine Wünsche nach Hebung des Ackerbaus und der Industrie, nach guten Straßen und andern Aenderungen im alten Schlendrian zurück. Was sich auch dadurch nicht erklärt — und es bleibt davon ein beträcht¬ licher Rest — muß allerdings auf das Ungeschick der Regierenden und auf die Nachwehen des türkischen Phlegmas unter den Regierten gerechnet werden. Ich habe vorhin einiges von dem zusammengestellt, worin man die alten Hellenen nicht erkennt. Es gibt aber auch Vergleichspunkte, in denen die Vergangenheit durch die Gegenwart hindurchscheint, wenn die Ähnlichkeit auch erst mit einiger Anstrengung, durch den Verstand, nicht durch unmittel¬ bares Gefühl zum Vorschein kommt, und wenn-sie auch nicht immer grade solche Züge betrifft, die den heutigen Griechen zur Ehre gereichen. Es ist hier zunächst zwischen den beiden Stämmen zu unterscheiden, in welche die Bewohner des modernen Griechenland zerfallen. Mag der Umstand, daß im ganzen Norden des Königreichs mit Ausnahme der Städte, auf mehren Grenzboten III. 18S8. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/177>, abgerufen am 22.07.2024.