Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.nondas! Wie eine Heiligthumsschündung berührte es mich, über der Thür Aber wer sagt uns, daß die niedrige Stirn und die griechische Nasen¬ Bleibt bei Vielem die Empfindung des Mißverhältnisses zwischen einst Wenn Land und Volk im Allgemeinen den Eindruck von Armuth und nondas! Wie eine Heiligthumsschündung berührte es mich, über der Thür Aber wer sagt uns, daß die niedrige Stirn und die griechische Nasen¬ Bleibt bei Vielem die Empfindung des Mißverhältnisses zwischen einst Wenn Land und Volk im Allgemeinen den Eindruck von Armuth und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0176" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105987"/> <p xml:id="ID_459" prev="#ID_458"> nondas! Wie eine Heiligthumsschündung berührte es mich, über der Thür<lb/> von Mseläden und Schnapsschenken, von Barbierstuben und Schneiderwerk¬<lb/> stätten die Buchstaben zu lesen, mit denen Plato seine Gedanken über die<lb/> Unsterblichkeit der Seele, Demosthenes die Rede für den Kranz. Sophokles<lb/> und Pindar ihre hochherrlichen Dichtungen schrieben. Abgeschmackt erschien<lb/> es, auch nur einen Vergleich anzustellen zwischen diesen mit Goldblech und<lb/> Farbenprunk überladenen Kirchenwänden, die so bunt wie ein aufgeschlagenes<lb/> Spiel Karten sind, und den einfach schönen Tempeln der Mropolis.</p><lb/> <p xml:id="ID_460"> Aber wer sagt uns, daß die niedrige Stirn und die griechische Nasen¬<lb/> form in Althellas alltägliche Erscheinungen, wer leugnet, daß sie nicht viel¬<lb/> mehr Formen der Götter waren, wie sie im Geiste der Künstler lebten, daß<lb/> sie nur selten, ganz so selten vielleicht wie jetzt, an Sterbliche verliehen wur¬<lb/> den? Wer könnte meinen, daß jene altgriechischen Buchstaben nur Dichtern<lb/> und Philosophen, nur zur Verewigung wichtiger Regierungsbeschlüsse dienten,<lb/> nur auf Tempeln und Ehrensäulen, nicht auch auf Anstalten zu lesen waren,<lb/> in denen es sich um die gemeine Nahrung und Nothdurft des Lebens handelte?</p><lb/> <p xml:id="ID_461"> Bleibt bei Vielem die Empfindung des Mißverhältnisses zwischen einst<lb/> und jetzt, so fehlt es wenigstens nicht an einer Erklärung. Das heutige<lb/> Griechenland gehört noch wesentlich dem Orient an. Seine Kirche nennt sich<lb/> die morgenländische. Oft hört man Redewendungen, selbst von Gebildeten,<lb/> die ganz gegen den- Willen der Sprechenden die Meinung ausdrücken, daß<lb/> Griechenland nicht zu Europa zu schlagen sei. „Ja, die Europäer sind da¬<lb/> rin weiter?" Oder: „Als ich in Europa mich aufhielt, fand ich. daß dies und<lb/> das anders war als bei uns." Jene überbürden Kirchen mit ihren schwarz¬<lb/> braunen Gottesmüttern und Heiligen sind asiatischer Geschmack. Jene häßlich<lb/> quälende Flöte, jene polternde Trommel, es war türkische Musik. Jener nä¬<lb/> selnde Gesang, der die Heldenthaten des Marko Bozzaris und anderer Palli-<lb/> karen feiert, ist ein Verwandter der Weisen, in denen Antars und Abu Sejds<lb/> Züge gegen die feindlichen Schechs in der arabischen Wüste besungen werden.<lb/> Auf die niedere Stellung der Frauen in Griechenland haben Haremsbegriffe<lb/> eingewirkt. Die Habgier und die Bestechlichkeit der Beamten sind ebenfalls<lb/> türkisches Erbtheil, und wenn selbst in den vornehmern Kreisen die Gesetze<lb/> abendländischer Ehre nur sehr sporadisch Anerkennung finden, so ist das zum<lb/> guten Theil auf dieselbe Rechnung zu schreiben.</p><lb/> <p xml:id="ID_462" next="#ID_463"> Wenn Land und Volk im Allgemeinen den Eindruck von Armuth und<lb/> Vernachlässigung machen, der-Ackerbau auf sehr niedriger Stufe steht, so gut<lb/> wie gar keine Fabriken existiren, die Wege für Wagen sich auf wenige Meilen<lb/> beschränken, noch heute keine Eisenbahn zwischen der Hauptstadt und ihrem<lb/> Hafen gebaut worden ist, so ist zunächst zu bedenken, daß vor dem Schaffen<lb/> mancherlei abzuthun war, daß man Factionen niederzuwerfen hatte, daß der</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0176]
nondas! Wie eine Heiligthumsschündung berührte es mich, über der Thür
von Mseläden und Schnapsschenken, von Barbierstuben und Schneiderwerk¬
stätten die Buchstaben zu lesen, mit denen Plato seine Gedanken über die
Unsterblichkeit der Seele, Demosthenes die Rede für den Kranz. Sophokles
und Pindar ihre hochherrlichen Dichtungen schrieben. Abgeschmackt erschien
es, auch nur einen Vergleich anzustellen zwischen diesen mit Goldblech und
Farbenprunk überladenen Kirchenwänden, die so bunt wie ein aufgeschlagenes
Spiel Karten sind, und den einfach schönen Tempeln der Mropolis.
Aber wer sagt uns, daß die niedrige Stirn und die griechische Nasen¬
form in Althellas alltägliche Erscheinungen, wer leugnet, daß sie nicht viel¬
mehr Formen der Götter waren, wie sie im Geiste der Künstler lebten, daß
sie nur selten, ganz so selten vielleicht wie jetzt, an Sterbliche verliehen wur¬
den? Wer könnte meinen, daß jene altgriechischen Buchstaben nur Dichtern
und Philosophen, nur zur Verewigung wichtiger Regierungsbeschlüsse dienten,
nur auf Tempeln und Ehrensäulen, nicht auch auf Anstalten zu lesen waren,
in denen es sich um die gemeine Nahrung und Nothdurft des Lebens handelte?
Bleibt bei Vielem die Empfindung des Mißverhältnisses zwischen einst
und jetzt, so fehlt es wenigstens nicht an einer Erklärung. Das heutige
Griechenland gehört noch wesentlich dem Orient an. Seine Kirche nennt sich
die morgenländische. Oft hört man Redewendungen, selbst von Gebildeten,
die ganz gegen den- Willen der Sprechenden die Meinung ausdrücken, daß
Griechenland nicht zu Europa zu schlagen sei. „Ja, die Europäer sind da¬
rin weiter?" Oder: „Als ich in Europa mich aufhielt, fand ich. daß dies und
das anders war als bei uns." Jene überbürden Kirchen mit ihren schwarz¬
braunen Gottesmüttern und Heiligen sind asiatischer Geschmack. Jene häßlich
quälende Flöte, jene polternde Trommel, es war türkische Musik. Jener nä¬
selnde Gesang, der die Heldenthaten des Marko Bozzaris und anderer Palli-
karen feiert, ist ein Verwandter der Weisen, in denen Antars und Abu Sejds
Züge gegen die feindlichen Schechs in der arabischen Wüste besungen werden.
Auf die niedere Stellung der Frauen in Griechenland haben Haremsbegriffe
eingewirkt. Die Habgier und die Bestechlichkeit der Beamten sind ebenfalls
türkisches Erbtheil, und wenn selbst in den vornehmern Kreisen die Gesetze
abendländischer Ehre nur sehr sporadisch Anerkennung finden, so ist das zum
guten Theil auf dieselbe Rechnung zu schreiben.
Wenn Land und Volk im Allgemeinen den Eindruck von Armuth und
Vernachlässigung machen, der-Ackerbau auf sehr niedriger Stufe steht, so gut
wie gar keine Fabriken existiren, die Wege für Wagen sich auf wenige Meilen
beschränken, noch heute keine Eisenbahn zwischen der Hauptstadt und ihrem
Hafen gebaut worden ist, so ist zunächst zu bedenken, daß vor dem Schaffen
mancherlei abzuthun war, daß man Factionen niederzuwerfen hatte, daß der
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