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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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der Fluch des Türkenthums erst wie eine verzehrende Lohe über Land und
Volk ging, und dann als langsam vergiftender, Fäulniß erzeugender Gumpf-
brodem über beiden gelagert blieb, derselbe Fluch, der jenem alten Hellas
drohte, als sich am Tage von Salamis die Segel der Perserflotte gegen seine
verbündeten Geschwader in Bewegung setzten. Und da es kaum dreißig Jahre
her ist, seit der Donner und Blitz einer andern großen Seeschlacht die Luft in diesen
Strichen gereinigt hat, da ein großer Theil des gegenwärtigen Geschlechts
noch in der türkischen Sklaverei geboren und aufgewachsen ist, so dürfen wir
auch nicht den Maßstab unserer Zustände anlegen. Halten wir den deutschen
Volksgeist in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der verwilderten
Zeit nach dem dreißigjährigen Kriege an dieses griechische Volksthum, so wird
der Vergleich sicher nicht so ungünstig sür die modernen Hellenen ausfallen.
Sie mit ihren großen Ahnen oder mit uns zusammenzustellen, wird nur in¬
sofern erlaubt sein, als sie selbst das eine oder das andere thun, und dann
ist der thörichte Hochmuth bald in seine Schranken gewiesen.

Und dann, ist es immer das rechte Bild von Althellas, welches wir an
die Gegenwart Griechenlands halten? Es ist wahr, die Empfindung, die wir
unter den Menschen Syriens und Aegyptens haben, beschleicht uns hier nie¬
mals. In Kairo bedarf es keines hohen Flugs der Phantasie, um sich im
alten Jerusalem zu glauben. Die mystischen Lieder der Derwische sind die¬
selben liebestrunknen, zwischen sinnlicher Glut und Sehnsucht nach Vereinigung
mit Gott schwankenden Hymnen, wie die des Hohenliedes. Die Tänzerinnen
tanzen in derselben Weise, wie Herodias, als sie sich das Haupt des Johan¬
nes ertanzte, wie Mirjam vielleicht nach dem Gange durchs rothe Meer. Genau
so wie die Karavane, die 'durch jenes Wüstenthal zieht, wird die Karavane
ausgesehen haben, welche den verkauften Joseph nach der Stadt Pharaos
brachte, genau so wie jener alte Beduinenschech mit dem weißen wallenden
Bart und sein Gefolge von Lanzenreitern, Abraham und seine Knechte aus
dem Zug gegen Kedor Laomor, den König von Elam. Der auf seinen Stab
gestützte Ziegenhirt an jener Quelle könnte Moses nach seiner Flucht zu Jethro,
das gedankenvolle verschleierte Araberweib, das an diesem Brunuenrande seinen
Henkelkrug hinstellt, die Samariterin sein, mit der Jesus einst gesprochen.

In Griechenland begegnet uns kein Bild dieser Art. Trotz mancher süd¬
lichen Mädchenschönheit, trotz vieler kräftiger Männergestalten, auf die wir
stießen, trafen wir kaum jemals auf ein Gesicht, das ich mir in den Festzug
der Panathenüen hätte denken, kaum jemals auf eine Figur, die ich mir als
mitwirkend bei den olympischen Spielen hätte vorstellen können. Wie ein
schlechter Witz kam es mir vor, wenn wir jene Schönen Aphrodite, jene
Männer Epaminondas oder Leonidas nennen hörten -- und wie viele hä߬
liche Dirnen hießen auch Aphrodite, wie viele schäbige Bursche auch Epami-


der Fluch des Türkenthums erst wie eine verzehrende Lohe über Land und
Volk ging, und dann als langsam vergiftender, Fäulniß erzeugender Gumpf-
brodem über beiden gelagert blieb, derselbe Fluch, der jenem alten Hellas
drohte, als sich am Tage von Salamis die Segel der Perserflotte gegen seine
verbündeten Geschwader in Bewegung setzten. Und da es kaum dreißig Jahre
her ist, seit der Donner und Blitz einer andern großen Seeschlacht die Luft in diesen
Strichen gereinigt hat, da ein großer Theil des gegenwärtigen Geschlechts
noch in der türkischen Sklaverei geboren und aufgewachsen ist, so dürfen wir
auch nicht den Maßstab unserer Zustände anlegen. Halten wir den deutschen
Volksgeist in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der verwilderten
Zeit nach dem dreißigjährigen Kriege an dieses griechische Volksthum, so wird
der Vergleich sicher nicht so ungünstig sür die modernen Hellenen ausfallen.
Sie mit ihren großen Ahnen oder mit uns zusammenzustellen, wird nur in¬
sofern erlaubt sein, als sie selbst das eine oder das andere thun, und dann
ist der thörichte Hochmuth bald in seine Schranken gewiesen.

Und dann, ist es immer das rechte Bild von Althellas, welches wir an
die Gegenwart Griechenlands halten? Es ist wahr, die Empfindung, die wir
unter den Menschen Syriens und Aegyptens haben, beschleicht uns hier nie¬
mals. In Kairo bedarf es keines hohen Flugs der Phantasie, um sich im
alten Jerusalem zu glauben. Die mystischen Lieder der Derwische sind die¬
selben liebestrunknen, zwischen sinnlicher Glut und Sehnsucht nach Vereinigung
mit Gott schwankenden Hymnen, wie die des Hohenliedes. Die Tänzerinnen
tanzen in derselben Weise, wie Herodias, als sie sich das Haupt des Johan¬
nes ertanzte, wie Mirjam vielleicht nach dem Gange durchs rothe Meer. Genau
so wie die Karavane, die 'durch jenes Wüstenthal zieht, wird die Karavane
ausgesehen haben, welche den verkauften Joseph nach der Stadt Pharaos
brachte, genau so wie jener alte Beduinenschech mit dem weißen wallenden
Bart und sein Gefolge von Lanzenreitern, Abraham und seine Knechte aus
dem Zug gegen Kedor Laomor, den König von Elam. Der auf seinen Stab
gestützte Ziegenhirt an jener Quelle könnte Moses nach seiner Flucht zu Jethro,
das gedankenvolle verschleierte Araberweib, das an diesem Brunuenrande seinen
Henkelkrug hinstellt, die Samariterin sein, mit der Jesus einst gesprochen.

In Griechenland begegnet uns kein Bild dieser Art. Trotz mancher süd¬
lichen Mädchenschönheit, trotz vieler kräftiger Männergestalten, auf die wir
stießen, trafen wir kaum jemals auf ein Gesicht, das ich mir in den Festzug
der Panathenüen hätte denken, kaum jemals auf eine Figur, die ich mir als
mitwirkend bei den olympischen Spielen hätte vorstellen können. Wie ein
schlechter Witz kam es mir vor, wenn wir jene Schönen Aphrodite, jene
Männer Epaminondas oder Leonidas nennen hörten — und wie viele hä߬
liche Dirnen hießen auch Aphrodite, wie viele schäbige Bursche auch Epami-


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[0175] der Fluch des Türkenthums erst wie eine verzehrende Lohe über Land und Volk ging, und dann als langsam vergiftender, Fäulniß erzeugender Gumpf- brodem über beiden gelagert blieb, derselbe Fluch, der jenem alten Hellas drohte, als sich am Tage von Salamis die Segel der Perserflotte gegen seine verbündeten Geschwader in Bewegung setzten. Und da es kaum dreißig Jahre her ist, seit der Donner und Blitz einer andern großen Seeschlacht die Luft in diesen Strichen gereinigt hat, da ein großer Theil des gegenwärtigen Geschlechts noch in der türkischen Sklaverei geboren und aufgewachsen ist, so dürfen wir auch nicht den Maßstab unserer Zustände anlegen. Halten wir den deutschen Volksgeist in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der verwilderten Zeit nach dem dreißigjährigen Kriege an dieses griechische Volksthum, so wird der Vergleich sicher nicht so ungünstig sür die modernen Hellenen ausfallen. Sie mit ihren großen Ahnen oder mit uns zusammenzustellen, wird nur in¬ sofern erlaubt sein, als sie selbst das eine oder das andere thun, und dann ist der thörichte Hochmuth bald in seine Schranken gewiesen. Und dann, ist es immer das rechte Bild von Althellas, welches wir an die Gegenwart Griechenlands halten? Es ist wahr, die Empfindung, die wir unter den Menschen Syriens und Aegyptens haben, beschleicht uns hier nie¬ mals. In Kairo bedarf es keines hohen Flugs der Phantasie, um sich im alten Jerusalem zu glauben. Die mystischen Lieder der Derwische sind die¬ selben liebestrunknen, zwischen sinnlicher Glut und Sehnsucht nach Vereinigung mit Gott schwankenden Hymnen, wie die des Hohenliedes. Die Tänzerinnen tanzen in derselben Weise, wie Herodias, als sie sich das Haupt des Johan¬ nes ertanzte, wie Mirjam vielleicht nach dem Gange durchs rothe Meer. Genau so wie die Karavane, die 'durch jenes Wüstenthal zieht, wird die Karavane ausgesehen haben, welche den verkauften Joseph nach der Stadt Pharaos brachte, genau so wie jener alte Beduinenschech mit dem weißen wallenden Bart und sein Gefolge von Lanzenreitern, Abraham und seine Knechte aus dem Zug gegen Kedor Laomor, den König von Elam. Der auf seinen Stab gestützte Ziegenhirt an jener Quelle könnte Moses nach seiner Flucht zu Jethro, das gedankenvolle verschleierte Araberweib, das an diesem Brunuenrande seinen Henkelkrug hinstellt, die Samariterin sein, mit der Jesus einst gesprochen. In Griechenland begegnet uns kein Bild dieser Art. Trotz mancher süd¬ lichen Mädchenschönheit, trotz vieler kräftiger Männergestalten, auf die wir stießen, trafen wir kaum jemals auf ein Gesicht, das ich mir in den Festzug der Panathenüen hätte denken, kaum jemals auf eine Figur, die ich mir als mitwirkend bei den olympischen Spielen hätte vorstellen können. Wie ein schlechter Witz kam es mir vor, wenn wir jene Schönen Aphrodite, jene Männer Epaminondas oder Leonidas nennen hörten — und wie viele hä߬ liche Dirnen hießen auch Aphrodite, wie viele schäbige Bursche auch Epami-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/175>, abgerufen am 01.10.2024.