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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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dabei weder durch Alter, Beruf oder bürgerliche Bescholtenheit ungeeignet er¬
scheint, müßte auf die Urliste gesetzt werden können. Aus dieser müßte dann
die Wahl der am meisten Vertrauen erweckenden Personen durch einen mög¬
lichst unabhängigen und durch seine Stellung mit den einzelnen Kreisinsassen
bekannt gewordnen Mann erfolgen. Diese Sichtung der Urliste durch eine
individuelle Kritik, welche keinem Parteieinfluß Raum gibt und wirklich im
Stande ist. eine Meinung über die persönlichen Eigenschaften der Einberufncn
zu haben, ist die erste Grundbedingung einer brauchbaren Jury. Unsere Re¬
gierungspräsidenten sind weder politisch unparteiisch -- worauf es bei der
heutigen Kompetenz der Jury nicht ankommen würde -- noch haben sie in
den Urlistcn die erforderliche Auswahl, noch bei ihrer hohen Stellung die
nöthige persönliche Kenntniß von den Einzelnen. niedrigerer Census und die
Auswahl durch den Kreisgerichtsdirector würden hier dem Schaden abhelfen,
Auch das Verfahren trägt dazu bei, den richtigen Spruch zu erschweren. Zuerst
haben die Geschwornen eine viele Bogen lange Anklagcacte anzuhören. Nach
dem Beweisverfahren kommt dann eine schwungvolle Rede des Staatsanwaltes.
welche durch künstliche Verflechtung aller hervorgetretnen kleinen und unschein¬
baren Jndicien einen starken Beschuldigungsbeweis zu liefern bemüht ist. Ihr
entspricht eine noch glänzendere Rede des Vertheidigers, welche das Anklage¬
geflecht entwirrt und nun mit ebenso viel Scharfsinn als Berechnung auf das
Gefühl der Geschwornen die völlige Unschuld des Angeklagten darzuthun ver¬
sucht. Gegen diese Schlingen schützt die Geschwornen noch ein klares und
sachgemäßes Resümee des Vorsitzenden. Dann aber wird ihr Gewissen durch
eine haarspaltende Fragestellung aus die Probe gestellt, welche die Schuldfrage
in ein halbes Dutzend Neben- und Eventualfragcn zerlegt und die durch stunden¬
lange Anspannung ermüdeten Männer, deren Logik durch so vieles Für und
Wider ganz aus dem Gleichgewicht gebracht ist, bisweilen in wunderliche
Widersprüche verwickelt. In allen diesen Punkten fängt die Praxis bereits
an eine erfreuliche Vereinfachung herbeizuführen. Der Gesetzgebung aber wird
es dann vorbehalten bleiben, die letzte Hand an die Vervollkommnung unsrer
Jury zu legen, indem sie beim Verbiet Einstimmigkeit fordert. Daß diese nicht
unmöglich ist, lehren Amerika und England, welche wir hier unbedenklich als
Argument gebrauchen, da es sich nicht um Verhältnisse handelt, denen die
nationale Geschichte ihr Gepräge aufgedrückt hat, sondern um Eigenschaften
des menschlichen Geistes und Charakters, die auf der ganzen Erde von ziem¬
lich gleicher Anlage sind. Es kommt kaum einmal unter tausend Malen vor,
daß eine englische Jury sich nicht über ihr Verbiet einigen kann, vielleicht
einmal unter dreißig bis vierzig Malen, daß die Geschwornen sich zu einer
besondern Berathung zurückziehen müssen, um einstimmig zu werden. Es ist
in der That kaum anders möglich. Wenn 12 Männer, für deren Unparteilich-


dabei weder durch Alter, Beruf oder bürgerliche Bescholtenheit ungeeignet er¬
scheint, müßte auf die Urliste gesetzt werden können. Aus dieser müßte dann
die Wahl der am meisten Vertrauen erweckenden Personen durch einen mög¬
lichst unabhängigen und durch seine Stellung mit den einzelnen Kreisinsassen
bekannt gewordnen Mann erfolgen. Diese Sichtung der Urliste durch eine
individuelle Kritik, welche keinem Parteieinfluß Raum gibt und wirklich im
Stande ist. eine Meinung über die persönlichen Eigenschaften der Einberufncn
zu haben, ist die erste Grundbedingung einer brauchbaren Jury. Unsere Re¬
gierungspräsidenten sind weder politisch unparteiisch — worauf es bei der
heutigen Kompetenz der Jury nicht ankommen würde — noch haben sie in
den Urlistcn die erforderliche Auswahl, noch bei ihrer hohen Stellung die
nöthige persönliche Kenntniß von den Einzelnen. niedrigerer Census und die
Auswahl durch den Kreisgerichtsdirector würden hier dem Schaden abhelfen,
Auch das Verfahren trägt dazu bei, den richtigen Spruch zu erschweren. Zuerst
haben die Geschwornen eine viele Bogen lange Anklagcacte anzuhören. Nach
dem Beweisverfahren kommt dann eine schwungvolle Rede des Staatsanwaltes.
welche durch künstliche Verflechtung aller hervorgetretnen kleinen und unschein¬
baren Jndicien einen starken Beschuldigungsbeweis zu liefern bemüht ist. Ihr
entspricht eine noch glänzendere Rede des Vertheidigers, welche das Anklage¬
geflecht entwirrt und nun mit ebenso viel Scharfsinn als Berechnung auf das
Gefühl der Geschwornen die völlige Unschuld des Angeklagten darzuthun ver¬
sucht. Gegen diese Schlingen schützt die Geschwornen noch ein klares und
sachgemäßes Resümee des Vorsitzenden. Dann aber wird ihr Gewissen durch
eine haarspaltende Fragestellung aus die Probe gestellt, welche die Schuldfrage
in ein halbes Dutzend Neben- und Eventualfragcn zerlegt und die durch stunden¬
lange Anspannung ermüdeten Männer, deren Logik durch so vieles Für und
Wider ganz aus dem Gleichgewicht gebracht ist, bisweilen in wunderliche
Widersprüche verwickelt. In allen diesen Punkten fängt die Praxis bereits
an eine erfreuliche Vereinfachung herbeizuführen. Der Gesetzgebung aber wird
es dann vorbehalten bleiben, die letzte Hand an die Vervollkommnung unsrer
Jury zu legen, indem sie beim Verbiet Einstimmigkeit fordert. Daß diese nicht
unmöglich ist, lehren Amerika und England, welche wir hier unbedenklich als
Argument gebrauchen, da es sich nicht um Verhältnisse handelt, denen die
nationale Geschichte ihr Gepräge aufgedrückt hat, sondern um Eigenschaften
des menschlichen Geistes und Charakters, die auf der ganzen Erde von ziem¬
lich gleicher Anlage sind. Es kommt kaum einmal unter tausend Malen vor,
daß eine englische Jury sich nicht über ihr Verbiet einigen kann, vielleicht
einmal unter dreißig bis vierzig Malen, daß die Geschwornen sich zu einer
besondern Berathung zurückziehen müssen, um einstimmig zu werden. Es ist
in der That kaum anders möglich. Wenn 12 Männer, für deren Unparteilich-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/140>, abgerufen am 22.07.2024.