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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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keit und Befähigung zum Urtheil die Art ihrer Auswahl eine Garantie bietet,
gezwungen sind, sich eine Ueberzeugung zu bilden, und dieselben Elemente
dazu vor jedem ausgebreitet werden, so muß ihr Urtheil schließlich einstimmig
sein, oder einstimmig werden, indem die besser begründete Ueberzeugung die
schwächere bei der Berathung zu sich hinüberzieht. So kann ein einziger ge¬
wissenhafter, aufmerksamer und von seiner Pflicht durchdrungener Geschworne
in England die entscheidende Stimme sür das Verdict abgeben, während bei
uns acht unaufmerksame und denkfaule Geschworne ohne Weiteres vier tüchtige
Geschworne überstimmen. Grade das Geschwornenamt, wo es keine extreme
und keine mittlere Meinung geben kann, ist der Art. die Stimmen zu wägen
und nicht zu zählen. Eine begründete Ansicht muß hier elf unbegründeten
vorgehen, welche sich dadurch als unsicher und werthlos zeigen, daß sie sich
selbst jener unterordnen. Majoritätsbeschlüsse haben hier noch weniger Sinn
als bei politischen Abstimmungen, wo die Zahl der Stimmen wenigstens die
Verbreitung oder Stärke der Interessen ausdrückt. In der Einstimmigkeit des
Verdicts haben wir sogar ein Mittel, politische und gemüthliche Sympathien
aus dem Berathungszimmer zu verbannen, wenn nur einer von den 12 Ge¬
schwornen ein Mann von Unparteilichkeit und Charakter ist. Sobald diese
drei Reformen mit den Geschwornengerichten vorgegangen sein werden, zwei¬
feln wir nicht, daß sie sich die ungetheilte Achtung von Juristen und Laien
erwerben werden. Sie füllen dann nicht nur ihren Platz vollkommen aus,
sondern heben auch den Gemeinsinn und verbreiten Kenntniß und Achtung
vor einem der wesentlichsten Theile des Rechts weit über die richterlichen
Kreise hinaus. --

Wir haben bisher nur von den normalen Fällen des Verfahrens gesprochen,
wo der Angeklagte persönlich bei der Hauptverhandlung anwesend ist. Gegen
Abwesende, welche auf keine andere Weise sistirt werden können, und auch
auf öffentliche Vorladung nicht in einer bestimmten Frist erscheinen, wird irr
eontuirmeiam nach Lage der Acten und ohne Mitwirkung der Geschwornen
erkannt. Wird der Angeklagte nach ergangnem Urtheil ergriffen, oder gestellt
er sich freiwillig, so findet selbst dann uoch das ordentliche Verfahren statt
und sein einziger Nachtheil ist, daß er auch im Fall der Freisprechung die
Kosten des vorausgegangenen Contumazialvcrfahrens tragen muß. (Art.33--50
des Geh. v. 3. Mai 1852). Bei diesen vielseitigen Garantien für die Gerechtig¬
keit der Entscheidung konnten die Rechtsmittel eine Beschränkung gegen die
frühere Zeit erfahren. So ist gegen Urtheile über die Uebertretungen nur
Recurs an eine Obergerichtscibtheilung von drei Mitgliedern gestattet, bei dem
neue Beweismittel bereits angeführter Thatsachen gar nicht, neue Thatumstände
nur. so weit sie bescheinigt sind, angeführt werden dürfen. Appellation ist
nur gegen einen Spruch der Gerichtsabtheilung zulässig. Was das Ober-


keit und Befähigung zum Urtheil die Art ihrer Auswahl eine Garantie bietet,
gezwungen sind, sich eine Ueberzeugung zu bilden, und dieselben Elemente
dazu vor jedem ausgebreitet werden, so muß ihr Urtheil schließlich einstimmig
sein, oder einstimmig werden, indem die besser begründete Ueberzeugung die
schwächere bei der Berathung zu sich hinüberzieht. So kann ein einziger ge¬
wissenhafter, aufmerksamer und von seiner Pflicht durchdrungener Geschworne
in England die entscheidende Stimme sür das Verdict abgeben, während bei
uns acht unaufmerksame und denkfaule Geschworne ohne Weiteres vier tüchtige
Geschworne überstimmen. Grade das Geschwornenamt, wo es keine extreme
und keine mittlere Meinung geben kann, ist der Art. die Stimmen zu wägen
und nicht zu zählen. Eine begründete Ansicht muß hier elf unbegründeten
vorgehen, welche sich dadurch als unsicher und werthlos zeigen, daß sie sich
selbst jener unterordnen. Majoritätsbeschlüsse haben hier noch weniger Sinn
als bei politischen Abstimmungen, wo die Zahl der Stimmen wenigstens die
Verbreitung oder Stärke der Interessen ausdrückt. In der Einstimmigkeit des
Verdicts haben wir sogar ein Mittel, politische und gemüthliche Sympathien
aus dem Berathungszimmer zu verbannen, wenn nur einer von den 12 Ge¬
schwornen ein Mann von Unparteilichkeit und Charakter ist. Sobald diese
drei Reformen mit den Geschwornengerichten vorgegangen sein werden, zwei¬
feln wir nicht, daß sie sich die ungetheilte Achtung von Juristen und Laien
erwerben werden. Sie füllen dann nicht nur ihren Platz vollkommen aus,
sondern heben auch den Gemeinsinn und verbreiten Kenntniß und Achtung
vor einem der wesentlichsten Theile des Rechts weit über die richterlichen
Kreise hinaus. —

Wir haben bisher nur von den normalen Fällen des Verfahrens gesprochen,
wo der Angeklagte persönlich bei der Hauptverhandlung anwesend ist. Gegen
Abwesende, welche auf keine andere Weise sistirt werden können, und auch
auf öffentliche Vorladung nicht in einer bestimmten Frist erscheinen, wird irr
eontuirmeiam nach Lage der Acten und ohne Mitwirkung der Geschwornen
erkannt. Wird der Angeklagte nach ergangnem Urtheil ergriffen, oder gestellt
er sich freiwillig, so findet selbst dann uoch das ordentliche Verfahren statt
und sein einziger Nachtheil ist, daß er auch im Fall der Freisprechung die
Kosten des vorausgegangenen Contumazialvcrfahrens tragen muß. (Art.33—50
des Geh. v. 3. Mai 1852). Bei diesen vielseitigen Garantien für die Gerechtig¬
keit der Entscheidung konnten die Rechtsmittel eine Beschränkung gegen die
frühere Zeit erfahren. So ist gegen Urtheile über die Uebertretungen nur
Recurs an eine Obergerichtscibtheilung von drei Mitgliedern gestattet, bei dem
neue Beweismittel bereits angeführter Thatsachen gar nicht, neue Thatumstände
nur. so weit sie bescheinigt sind, angeführt werden dürfen. Appellation ist
nur gegen einen Spruch der Gerichtsabtheilung zulässig. Was das Ober-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/141>, abgerufen am 22.07.2024.