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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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eben mit der specifisch Mistischen Bildung ebenso wenig zu thun. als die Fä¬
higkeit, aus Thatsachen und Erscheinungen des gewöhnlichen Lebens einen
richtigen Schluß zu ziehen, mit dem Anhören einer Vorlesung über Logik.
Die meisten Verbrechen geschehen im Verborgenen, viele hinterlassen nicht ein¬
mal eine greifbare Spur. Um mit objectiver Gewißheit sagen zu können:
Der ist der Schuldige, müßten die Geheimnisse der menschlichen Brust vor
dem Auge des Richters klar daliegen, wie vor dem Auge des Ewigen. Gesteht
der Verbrecher nicht selbst seine Schuld, so gibt es nur zwei Wege, sie zu er¬
mitteln: den einen wählten unsere Vorfahren, indem sie den Verdächtigen
einer offenbaren Gefahr aussetzten, überzeugt, daß die Vorsehung ihre schü¬
tzende Hand über dem Unschuldigen halten und an ihm die Macht der Ge¬
rechtigkeit verherrlichen werde; den zweiten gehen wir. Zwar ohne die Glau-
bcnskraft der alten Zeit, doch mit dem ernsten Willen, die Wahrheit zum
Recht und das Recht zur Wahrheit zu machen, haben wir die verwerfliche
Methode verlassen, das Geständniß des Angeklagten durch Quälen zu erzwin¬
gen, oder durch List zu erschleichen. Wir wissen, daß Anzeichen trügen tonnen.
Aber wir haben auch so viel Glauben an die vernünftige und sittliche Ordnung
der Welt, so viel Achtung vor dem menschlichen Geist, um den übereinstim¬
menden Gewissensspruch von 12 unparteiischen Männern für ein genügendes
Zeugniß der Schuld zu nehmen. Gesunden Verstand, Lebenserfahrung, vor
altem strenge Gewissenhaftigkeit muß der Geschworne haben, juristische Kennt¬
nisse bedarf er nicht. Wir glauben, daß jeder Verklagte einen Laien mit
jenen drei Eigenschaften unendlich lieber als den gelehrtesten Juristen, welchem
eine derselben fehlt, über sich urtheilen lassen würde, und schon die Billigkeit
der Forderung, daß der, welcher sein ganzes Schicksal von der Ueberzeugung
weniger Männer abhängig gemacht sieht, einen Einfluß auf die Wahl dieser
Männer habe und nicht gezwungen sei, sich dem Spruch bestimmter Richter,
zu denen er vielleicht kein Vertrauen hat, zu unterwerfen, spricht für Ge-
schwornengerichte.

Wir heben es noch einmal hervor: Bei dem, was der Geschworne zu thun
hat, würde dem Richter seine juristische Bildung in der Regel nicht mehr oder
weniger helfen, als bei seinen privaten Familien- oder Vermögensverhältnissen,
wo es sich um Bildung einer innern Ueberzeugung, um Abgabe eines Urtheils
sei es in Worten, sei es in dem dadurch bestimmten Benehmen handelt. Der
Geschworne hat alles, was die Verhandlung ihm nach und nach an Zeugen¬
aussagen, Gutachten von Sachverständigen, Urkunden, Augenschein an den
vorhandenen Objecten und Werkzeugen des Verbrechens und vor allem auch
in dem Verhalten des Angeklagten vorführt, in sich zu einem Gesammtbild
zu reproduciren und aus dem Eindrucke dieses auf seinen gesammten innern
Menschen sein Verdict abzugeben. Die Schuld des Angeklagten bleibt dabei


eben mit der specifisch Mistischen Bildung ebenso wenig zu thun. als die Fä¬
higkeit, aus Thatsachen und Erscheinungen des gewöhnlichen Lebens einen
richtigen Schluß zu ziehen, mit dem Anhören einer Vorlesung über Logik.
Die meisten Verbrechen geschehen im Verborgenen, viele hinterlassen nicht ein¬
mal eine greifbare Spur. Um mit objectiver Gewißheit sagen zu können:
Der ist der Schuldige, müßten die Geheimnisse der menschlichen Brust vor
dem Auge des Richters klar daliegen, wie vor dem Auge des Ewigen. Gesteht
der Verbrecher nicht selbst seine Schuld, so gibt es nur zwei Wege, sie zu er¬
mitteln: den einen wählten unsere Vorfahren, indem sie den Verdächtigen
einer offenbaren Gefahr aussetzten, überzeugt, daß die Vorsehung ihre schü¬
tzende Hand über dem Unschuldigen halten und an ihm die Macht der Ge¬
rechtigkeit verherrlichen werde; den zweiten gehen wir. Zwar ohne die Glau-
bcnskraft der alten Zeit, doch mit dem ernsten Willen, die Wahrheit zum
Recht und das Recht zur Wahrheit zu machen, haben wir die verwerfliche
Methode verlassen, das Geständniß des Angeklagten durch Quälen zu erzwin¬
gen, oder durch List zu erschleichen. Wir wissen, daß Anzeichen trügen tonnen.
Aber wir haben auch so viel Glauben an die vernünftige und sittliche Ordnung
der Welt, so viel Achtung vor dem menschlichen Geist, um den übereinstim¬
menden Gewissensspruch von 12 unparteiischen Männern für ein genügendes
Zeugniß der Schuld zu nehmen. Gesunden Verstand, Lebenserfahrung, vor
altem strenge Gewissenhaftigkeit muß der Geschworne haben, juristische Kennt¬
nisse bedarf er nicht. Wir glauben, daß jeder Verklagte einen Laien mit
jenen drei Eigenschaften unendlich lieber als den gelehrtesten Juristen, welchem
eine derselben fehlt, über sich urtheilen lassen würde, und schon die Billigkeit
der Forderung, daß der, welcher sein ganzes Schicksal von der Ueberzeugung
weniger Männer abhängig gemacht sieht, einen Einfluß auf die Wahl dieser
Männer habe und nicht gezwungen sei, sich dem Spruch bestimmter Richter,
zu denen er vielleicht kein Vertrauen hat, zu unterwerfen, spricht für Ge-
schwornengerichte.

Wir heben es noch einmal hervor: Bei dem, was der Geschworne zu thun
hat, würde dem Richter seine juristische Bildung in der Regel nicht mehr oder
weniger helfen, als bei seinen privaten Familien- oder Vermögensverhältnissen,
wo es sich um Bildung einer innern Ueberzeugung, um Abgabe eines Urtheils
sei es in Worten, sei es in dem dadurch bestimmten Benehmen handelt. Der
Geschworne hat alles, was die Verhandlung ihm nach und nach an Zeugen¬
aussagen, Gutachten von Sachverständigen, Urkunden, Augenschein an den
vorhandenen Objecten und Werkzeugen des Verbrechens und vor allem auch
in dem Verhalten des Angeklagten vorführt, in sich zu einem Gesammtbild
zu reproduciren und aus dem Eindrucke dieses auf seinen gesammten innern
Menschen sein Verdict abzugeben. Die Schuld des Angeklagten bleibt dabei


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[0138] eben mit der specifisch Mistischen Bildung ebenso wenig zu thun. als die Fä¬ higkeit, aus Thatsachen und Erscheinungen des gewöhnlichen Lebens einen richtigen Schluß zu ziehen, mit dem Anhören einer Vorlesung über Logik. Die meisten Verbrechen geschehen im Verborgenen, viele hinterlassen nicht ein¬ mal eine greifbare Spur. Um mit objectiver Gewißheit sagen zu können: Der ist der Schuldige, müßten die Geheimnisse der menschlichen Brust vor dem Auge des Richters klar daliegen, wie vor dem Auge des Ewigen. Gesteht der Verbrecher nicht selbst seine Schuld, so gibt es nur zwei Wege, sie zu er¬ mitteln: den einen wählten unsere Vorfahren, indem sie den Verdächtigen einer offenbaren Gefahr aussetzten, überzeugt, daß die Vorsehung ihre schü¬ tzende Hand über dem Unschuldigen halten und an ihm die Macht der Ge¬ rechtigkeit verherrlichen werde; den zweiten gehen wir. Zwar ohne die Glau- bcnskraft der alten Zeit, doch mit dem ernsten Willen, die Wahrheit zum Recht und das Recht zur Wahrheit zu machen, haben wir die verwerfliche Methode verlassen, das Geständniß des Angeklagten durch Quälen zu erzwin¬ gen, oder durch List zu erschleichen. Wir wissen, daß Anzeichen trügen tonnen. Aber wir haben auch so viel Glauben an die vernünftige und sittliche Ordnung der Welt, so viel Achtung vor dem menschlichen Geist, um den übereinstim¬ menden Gewissensspruch von 12 unparteiischen Männern für ein genügendes Zeugniß der Schuld zu nehmen. Gesunden Verstand, Lebenserfahrung, vor altem strenge Gewissenhaftigkeit muß der Geschworne haben, juristische Kennt¬ nisse bedarf er nicht. Wir glauben, daß jeder Verklagte einen Laien mit jenen drei Eigenschaften unendlich lieber als den gelehrtesten Juristen, welchem eine derselben fehlt, über sich urtheilen lassen würde, und schon die Billigkeit der Forderung, daß der, welcher sein ganzes Schicksal von der Ueberzeugung weniger Männer abhängig gemacht sieht, einen Einfluß auf die Wahl dieser Männer habe und nicht gezwungen sei, sich dem Spruch bestimmter Richter, zu denen er vielleicht kein Vertrauen hat, zu unterwerfen, spricht für Ge- schwornengerichte. Wir heben es noch einmal hervor: Bei dem, was der Geschworne zu thun hat, würde dem Richter seine juristische Bildung in der Regel nicht mehr oder weniger helfen, als bei seinen privaten Familien- oder Vermögensverhältnissen, wo es sich um Bildung einer innern Ueberzeugung, um Abgabe eines Urtheils sei es in Worten, sei es in dem dadurch bestimmten Benehmen handelt. Der Geschworne hat alles, was die Verhandlung ihm nach und nach an Zeugen¬ aussagen, Gutachten von Sachverständigen, Urkunden, Augenschein an den vorhandenen Objecten und Werkzeugen des Verbrechens und vor allem auch in dem Verhalten des Angeklagten vorführt, in sich zu einem Gesammtbild zu reproduciren und aus dem Eindrucke dieses auf seinen gesammten innern Menschen sein Verdict abzugeben. Die Schuld des Angeklagten bleibt dabei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/138>, abgerufen am 22.07.2024.