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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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eine tüchtige Summe erhöhen, und dazu ist kein Grund vorhanden, sobald
die Richter durch Privatpersonen ersetzt werden können, welche, indem sie ihre
Zeit und Kraft unentgeltlich dem gemeinen Besten opfern, darin die erste Ge¬
legenheit erhalten, Gemeinsinn zu bethätigen und das vielbesprochene Self-
government einmal in seiner praktischen Bedeutung kennen zu lernen. Es
fragt sich also: Können Laien bei der Schuldfrage den Rechtsgelehrten er¬
setzen? Man vergegenwärtige sich einmal einen concreten Fall. -- Ein alter
Herr stirbt unter verdächtigen Umstünden. Die Gerichte schreiten ein, und
die Obduction ergibt eine ungewöhnliche Menge von Arsenik in dem Magen
des Verstorbenen. Der Verdacht fällt aus eine in seinem Hause lebende, ent¬
fernte Verwandte, die von ihm erzogen worden war, aber keine glücklichen
Tage bei dem launischen Hagestolzen verlebt und grade in letzter Zeit häusig
die größte Sehnsucht nach Befreiung von dem lästigen Abhängigkeitsverhült-
niß geäußert hatte. Es stellt sich heraus, daß sie vor kurzem eine beträcht¬
liche Quantität Arsenik, angeblich als Rattenvertilgungsmittel gekauft hat,
daß von dieser fast die Hälfte fehlt, dagegen in dem Glase, worin sie dem
Verstorbenen allabendlich seinen Thee bereiten mußte, -- nach dessen Genuß
diesmal unmittelbar Erkrankung und Tod ersolgt war, -- ein starker Boden¬
satz von Arsenik gefunden wird. Das Mädchen leugnet zwar entschieden, be¬
nimmt sich dabei aber so wunderbar, daß der Verdacht gegen sie nur bestärkt
wird. Die Sache kommt vor die Geschwornen und niemand zweifelt an der
Verurtheilung. Da kommen bei der Beweisausnahme auch andere Umstände
zum Vorschein. Die Kraut'heitserscheinungen bei dem Verstorbenen sind ganz
anderer Art gewesen, als sie nach Arsenikvergiftungen zu sein Pflegen, und
die im Magen vorgefundene Quantität ist so beträchtlich und doch so wenig
wirksam aus die innern Organe gewesen, daß der ärztliche Sachverständige es
für höchst wahrscheinlich hält, das Gift sei erst nach dem Tode in den Leich¬
nam gebracht worden. Ein alter Diener des Verstorbenen hat nach dem Tode
seines Herrn ein unverhältnißmäßig verschwenderisches Leben begonnen; bei
der Nachlaßregulirung haben sich viele Veruntreuungen herausgestellt. End¬
lich sagt eine Zeugin aus, sie habe am Tagenach dem Tode den alten Die¬
ner mit einem gefüllten Glase allein nach dem Leichenzimmer schleichen sehen
und, als sie neugierig an der Thüre lauschte, einen eigenthümlich gurgelnden
Ton gehört. Es wird überdies festgestellt, daß der Arsenik an einem den
Hausbewohnern leicht zugänglichen Ort aufbewahrt worden sei, daß der alte
Diener im Besitz eines andern Gifts gewesen sei, das zwar keine Spuren in
der Leiche zurücklasse, in seiner Wirkung aber alle die Symptome zeige, welche
die letzte Krankheit des Todten charakterisirt haben. -- Wer ist nun der Schul¬
dige? Wir glauben, daß keiner unserer nicht rechtsgelehrten Leser sich die Ant¬
wort hierauf schuldig bleiben wird. Die Entscheidung der Schuldfrage hat


Grenzboten III. 1S5S. 17

eine tüchtige Summe erhöhen, und dazu ist kein Grund vorhanden, sobald
die Richter durch Privatpersonen ersetzt werden können, welche, indem sie ihre
Zeit und Kraft unentgeltlich dem gemeinen Besten opfern, darin die erste Ge¬
legenheit erhalten, Gemeinsinn zu bethätigen und das vielbesprochene Self-
government einmal in seiner praktischen Bedeutung kennen zu lernen. Es
fragt sich also: Können Laien bei der Schuldfrage den Rechtsgelehrten er¬
setzen? Man vergegenwärtige sich einmal einen concreten Fall. — Ein alter
Herr stirbt unter verdächtigen Umstünden. Die Gerichte schreiten ein, und
die Obduction ergibt eine ungewöhnliche Menge von Arsenik in dem Magen
des Verstorbenen. Der Verdacht fällt aus eine in seinem Hause lebende, ent¬
fernte Verwandte, die von ihm erzogen worden war, aber keine glücklichen
Tage bei dem launischen Hagestolzen verlebt und grade in letzter Zeit häusig
die größte Sehnsucht nach Befreiung von dem lästigen Abhängigkeitsverhült-
niß geäußert hatte. Es stellt sich heraus, daß sie vor kurzem eine beträcht¬
liche Quantität Arsenik, angeblich als Rattenvertilgungsmittel gekauft hat,
daß von dieser fast die Hälfte fehlt, dagegen in dem Glase, worin sie dem
Verstorbenen allabendlich seinen Thee bereiten mußte, — nach dessen Genuß
diesmal unmittelbar Erkrankung und Tod ersolgt war, — ein starker Boden¬
satz von Arsenik gefunden wird. Das Mädchen leugnet zwar entschieden, be¬
nimmt sich dabei aber so wunderbar, daß der Verdacht gegen sie nur bestärkt
wird. Die Sache kommt vor die Geschwornen und niemand zweifelt an der
Verurtheilung. Da kommen bei der Beweisausnahme auch andere Umstände
zum Vorschein. Die Kraut'heitserscheinungen bei dem Verstorbenen sind ganz
anderer Art gewesen, als sie nach Arsenikvergiftungen zu sein Pflegen, und
die im Magen vorgefundene Quantität ist so beträchtlich und doch so wenig
wirksam aus die innern Organe gewesen, daß der ärztliche Sachverständige es
für höchst wahrscheinlich hält, das Gift sei erst nach dem Tode in den Leich¬
nam gebracht worden. Ein alter Diener des Verstorbenen hat nach dem Tode
seines Herrn ein unverhältnißmäßig verschwenderisches Leben begonnen; bei
der Nachlaßregulirung haben sich viele Veruntreuungen herausgestellt. End¬
lich sagt eine Zeugin aus, sie habe am Tagenach dem Tode den alten Die¬
ner mit einem gefüllten Glase allein nach dem Leichenzimmer schleichen sehen
und, als sie neugierig an der Thüre lauschte, einen eigenthümlich gurgelnden
Ton gehört. Es wird überdies festgestellt, daß der Arsenik an einem den
Hausbewohnern leicht zugänglichen Ort aufbewahrt worden sei, daß der alte
Diener im Besitz eines andern Gifts gewesen sei, das zwar keine Spuren in
der Leiche zurücklasse, in seiner Wirkung aber alle die Symptome zeige, welche
die letzte Krankheit des Todten charakterisirt haben. — Wer ist nun der Schul¬
dige? Wir glauben, daß keiner unserer nicht rechtsgelehrten Leser sich die Ant¬
wort hierauf schuldig bleiben wird. Die Entscheidung der Schuldfrage hat


Grenzboten III. 1S5S. 17
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[0137] eine tüchtige Summe erhöhen, und dazu ist kein Grund vorhanden, sobald die Richter durch Privatpersonen ersetzt werden können, welche, indem sie ihre Zeit und Kraft unentgeltlich dem gemeinen Besten opfern, darin die erste Ge¬ legenheit erhalten, Gemeinsinn zu bethätigen und das vielbesprochene Self- government einmal in seiner praktischen Bedeutung kennen zu lernen. Es fragt sich also: Können Laien bei der Schuldfrage den Rechtsgelehrten er¬ setzen? Man vergegenwärtige sich einmal einen concreten Fall. — Ein alter Herr stirbt unter verdächtigen Umstünden. Die Gerichte schreiten ein, und die Obduction ergibt eine ungewöhnliche Menge von Arsenik in dem Magen des Verstorbenen. Der Verdacht fällt aus eine in seinem Hause lebende, ent¬ fernte Verwandte, die von ihm erzogen worden war, aber keine glücklichen Tage bei dem launischen Hagestolzen verlebt und grade in letzter Zeit häusig die größte Sehnsucht nach Befreiung von dem lästigen Abhängigkeitsverhült- niß geäußert hatte. Es stellt sich heraus, daß sie vor kurzem eine beträcht¬ liche Quantität Arsenik, angeblich als Rattenvertilgungsmittel gekauft hat, daß von dieser fast die Hälfte fehlt, dagegen in dem Glase, worin sie dem Verstorbenen allabendlich seinen Thee bereiten mußte, — nach dessen Genuß diesmal unmittelbar Erkrankung und Tod ersolgt war, — ein starker Boden¬ satz von Arsenik gefunden wird. Das Mädchen leugnet zwar entschieden, be¬ nimmt sich dabei aber so wunderbar, daß der Verdacht gegen sie nur bestärkt wird. Die Sache kommt vor die Geschwornen und niemand zweifelt an der Verurtheilung. Da kommen bei der Beweisausnahme auch andere Umstände zum Vorschein. Die Kraut'heitserscheinungen bei dem Verstorbenen sind ganz anderer Art gewesen, als sie nach Arsenikvergiftungen zu sein Pflegen, und die im Magen vorgefundene Quantität ist so beträchtlich und doch so wenig wirksam aus die innern Organe gewesen, daß der ärztliche Sachverständige es für höchst wahrscheinlich hält, das Gift sei erst nach dem Tode in den Leich¬ nam gebracht worden. Ein alter Diener des Verstorbenen hat nach dem Tode seines Herrn ein unverhältnißmäßig verschwenderisches Leben begonnen; bei der Nachlaßregulirung haben sich viele Veruntreuungen herausgestellt. End¬ lich sagt eine Zeugin aus, sie habe am Tagenach dem Tode den alten Die¬ ner mit einem gefüllten Glase allein nach dem Leichenzimmer schleichen sehen und, als sie neugierig an der Thüre lauschte, einen eigenthümlich gurgelnden Ton gehört. Es wird überdies festgestellt, daß der Arsenik an einem den Hausbewohnern leicht zugänglichen Ort aufbewahrt worden sei, daß der alte Diener im Besitz eines andern Gifts gewesen sei, das zwar keine Spuren in der Leiche zurücklasse, in seiner Wirkung aber alle die Symptome zeige, welche die letzte Krankheit des Todten charakterisirt haben. — Wer ist nun der Schul¬ dige? Wir glauben, daß keiner unserer nicht rechtsgelehrten Leser sich die Ant¬ wort hierauf schuldig bleiben wird. Die Entscheidung der Schuldfrage hat Grenzboten III. 1S5S. 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/137>, abgerufen am 22.07.2024.