Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

ches wohlverstanden kein Pcnrsgericht sein soll, durchweg ebenso wenig an
seinem Platz, als man es in Staaten mit durchgeführter Rechtsgleichheit süg-
lich über Fragen einer bestimmt ausgeprägten Standesehre z. B. der Offiziers¬
ehre entscheiden lassen kann. Abgesehen aber von solchen Ausnahmefällen,
halten wir die Entwicklungsstufe, auf welcher die preußische und überhaupt
die ganze deutsche Bevölkerung im Durchschnitt steht, sür vorgeschritten genug,
um die Geschwornengerichte als das beste Mittel zur Entscheidung der Schuld¬
frage im Criminalproceß erscheinen zu lassen, und glauben, daß wenn diese
Meinung heute noch von vielen nicht getheilt wird, die Schuld daran weniger
den Geschwornengerichten, wie sie sein sollen und können, als einzelnen Män¬
geln ihrer heutigen Gestaltung zur Last fällt.

Wir nehmen nach dem, was in dem vorhergehenden Artikel über das
alte Verfahren gesagt worden ist, als zugestanden an, daß eine gesetzlich be¬
stimmte Bcweistheorie zur Ermittlung der Wahrheit das unzweckmäßigste Mittel
ist. Das Leben schafft viel mannigfachere, zartere Nüancen, als der geist¬
vollste Gesetzgeber sie mit allem Beistand der Wissenschaft und Erfahrung vor¬
zusehen vermag. Wenn dem Richter vorgeschrieben ist, dies für unerwiesen zu
halten, wenn nicht die bestimmten Beweismittel vorhanden sind, jenes sür ein
Viertel, halb oder ganz erwiesen annehmen zu müssen, wenn gewisse Voraus¬
setzungen vorliegen, wird der richterlichen Ueberzeugung ein ungebührlicher
Zwang angethan. Die Wahrheit kommt ebenso wenig ans Licht, wie die Ge¬
rechtigkeit zur Geltung, und das Urtheil wird zu einem mechanischen Anlegen
der gewohnten Schablone unter dem Einfluß aller ähnlichen Präcedenzfälle.
Seit nun der Angeklagte nicht mehr als willenloser Gegenstand in die Hände
eines beinahe allmächtigen Richters gegeben war, konnte die einst so noth¬
wendige Schranke der gesetzlichen Beweistheorie fallen, und das Urtheil der
freien, richterlichen Ueberzeugung anheimgestellt werden. Wir wollen keinen
Augenblick bestreiten, daß der rechtsgelehrte Richter, wenn nur nicht eine be¬
ständige criminalistische Praxis ihn zu pessimistisch und deshalb befangen über
die Schuld jedes Verdächtigen denken gelehrt hat, dazu ebenso befähigt, sogar
befähigter ist als der Laiengeschworne. Bei der allgemeinen Achtung, dem
wohlerworbenen Vertrauen, dessen der preußische Richterstand sich erfreut, würde
die bloße Rücksicht auf ein sachgemäßes Verbiet uns ohne Bedenken das Amt
der Jury auf ein Richtercollegium übertragen lassen. Es geschieht ja auch
factisch, daß die Vergehen von drei Richtern, Übertretungen sogar von dem
Einzelrichter abgeurtheilt werden. Aber dann müßte freilich dieses über die
schwersten Criminalfülle urtheilende Richtercollegium aus mindestens 9 Personen
bestehen, damit die Garantie, welche bei den Schwurgerichten schon in der
Zahl der urtheilenden 12 Geschwornen und s Richter liegt, einigermaßen ein
Aequivalent erhalte. Das würde dann die Kosten unseres Iustizwesms um


ches wohlverstanden kein Pcnrsgericht sein soll, durchweg ebenso wenig an
seinem Platz, als man es in Staaten mit durchgeführter Rechtsgleichheit süg-
lich über Fragen einer bestimmt ausgeprägten Standesehre z. B. der Offiziers¬
ehre entscheiden lassen kann. Abgesehen aber von solchen Ausnahmefällen,
halten wir die Entwicklungsstufe, auf welcher die preußische und überhaupt
die ganze deutsche Bevölkerung im Durchschnitt steht, sür vorgeschritten genug,
um die Geschwornengerichte als das beste Mittel zur Entscheidung der Schuld¬
frage im Criminalproceß erscheinen zu lassen, und glauben, daß wenn diese
Meinung heute noch von vielen nicht getheilt wird, die Schuld daran weniger
den Geschwornengerichten, wie sie sein sollen und können, als einzelnen Män¬
geln ihrer heutigen Gestaltung zur Last fällt.

Wir nehmen nach dem, was in dem vorhergehenden Artikel über das
alte Verfahren gesagt worden ist, als zugestanden an, daß eine gesetzlich be¬
stimmte Bcweistheorie zur Ermittlung der Wahrheit das unzweckmäßigste Mittel
ist. Das Leben schafft viel mannigfachere, zartere Nüancen, als der geist¬
vollste Gesetzgeber sie mit allem Beistand der Wissenschaft und Erfahrung vor¬
zusehen vermag. Wenn dem Richter vorgeschrieben ist, dies für unerwiesen zu
halten, wenn nicht die bestimmten Beweismittel vorhanden sind, jenes sür ein
Viertel, halb oder ganz erwiesen annehmen zu müssen, wenn gewisse Voraus¬
setzungen vorliegen, wird der richterlichen Ueberzeugung ein ungebührlicher
Zwang angethan. Die Wahrheit kommt ebenso wenig ans Licht, wie die Ge¬
rechtigkeit zur Geltung, und das Urtheil wird zu einem mechanischen Anlegen
der gewohnten Schablone unter dem Einfluß aller ähnlichen Präcedenzfälle.
Seit nun der Angeklagte nicht mehr als willenloser Gegenstand in die Hände
eines beinahe allmächtigen Richters gegeben war, konnte die einst so noth¬
wendige Schranke der gesetzlichen Beweistheorie fallen, und das Urtheil der
freien, richterlichen Ueberzeugung anheimgestellt werden. Wir wollen keinen
Augenblick bestreiten, daß der rechtsgelehrte Richter, wenn nur nicht eine be¬
ständige criminalistische Praxis ihn zu pessimistisch und deshalb befangen über
die Schuld jedes Verdächtigen denken gelehrt hat, dazu ebenso befähigt, sogar
befähigter ist als der Laiengeschworne. Bei der allgemeinen Achtung, dem
wohlerworbenen Vertrauen, dessen der preußische Richterstand sich erfreut, würde
die bloße Rücksicht auf ein sachgemäßes Verbiet uns ohne Bedenken das Amt
der Jury auf ein Richtercollegium übertragen lassen. Es geschieht ja auch
factisch, daß die Vergehen von drei Richtern, Übertretungen sogar von dem
Einzelrichter abgeurtheilt werden. Aber dann müßte freilich dieses über die
schwersten Criminalfülle urtheilende Richtercollegium aus mindestens 9 Personen
bestehen, damit die Garantie, welche bei den Schwurgerichten schon in der
Zahl der urtheilenden 12 Geschwornen und s Richter liegt, einigermaßen ein
Aequivalent erhalte. Das würde dann die Kosten unseres Iustizwesms um


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0136" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/105947"/>
          <p xml:id="ID_320" prev="#ID_319"> ches wohlverstanden kein Pcnrsgericht sein soll, durchweg ebenso wenig an<lb/>
seinem Platz, als man es in Staaten mit durchgeführter Rechtsgleichheit süg-<lb/>
lich über Fragen einer bestimmt ausgeprägten Standesehre z. B. der Offiziers¬<lb/>
ehre entscheiden lassen kann. Abgesehen aber von solchen Ausnahmefällen,<lb/>
halten wir die Entwicklungsstufe, auf welcher die preußische und überhaupt<lb/>
die ganze deutsche Bevölkerung im Durchschnitt steht, sür vorgeschritten genug,<lb/>
um die Geschwornengerichte als das beste Mittel zur Entscheidung der Schuld¬<lb/>
frage im Criminalproceß erscheinen zu lassen, und glauben, daß wenn diese<lb/>
Meinung heute noch von vielen nicht getheilt wird, die Schuld daran weniger<lb/>
den Geschwornengerichten, wie sie sein sollen und können, als einzelnen Män¬<lb/>
geln ihrer heutigen Gestaltung zur Last fällt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_321" next="#ID_322"> Wir nehmen nach dem, was in dem vorhergehenden Artikel über das<lb/>
alte Verfahren gesagt worden ist, als zugestanden an, daß eine gesetzlich be¬<lb/>
stimmte Bcweistheorie zur Ermittlung der Wahrheit das unzweckmäßigste Mittel<lb/>
ist. Das Leben schafft viel mannigfachere, zartere Nüancen, als der geist¬<lb/>
vollste Gesetzgeber sie mit allem Beistand der Wissenschaft und Erfahrung vor¬<lb/>
zusehen vermag. Wenn dem Richter vorgeschrieben ist, dies für unerwiesen zu<lb/>
halten, wenn nicht die bestimmten Beweismittel vorhanden sind, jenes sür ein<lb/>
Viertel, halb oder ganz erwiesen annehmen zu müssen, wenn gewisse Voraus¬<lb/>
setzungen vorliegen, wird der richterlichen Ueberzeugung ein ungebührlicher<lb/>
Zwang angethan. Die Wahrheit kommt ebenso wenig ans Licht, wie die Ge¬<lb/>
rechtigkeit zur Geltung, und das Urtheil wird zu einem mechanischen Anlegen<lb/>
der gewohnten Schablone unter dem Einfluß aller ähnlichen Präcedenzfälle.<lb/>
Seit nun der Angeklagte nicht mehr als willenloser Gegenstand in die Hände<lb/>
eines beinahe allmächtigen Richters gegeben war, konnte die einst so noth¬<lb/>
wendige Schranke der gesetzlichen Beweistheorie fallen, und das Urtheil der<lb/>
freien, richterlichen Ueberzeugung anheimgestellt werden. Wir wollen keinen<lb/>
Augenblick bestreiten, daß der rechtsgelehrte Richter, wenn nur nicht eine be¬<lb/>
ständige criminalistische Praxis ihn zu pessimistisch und deshalb befangen über<lb/>
die Schuld jedes Verdächtigen denken gelehrt hat, dazu ebenso befähigt, sogar<lb/>
befähigter ist als der Laiengeschworne. Bei der allgemeinen Achtung, dem<lb/>
wohlerworbenen Vertrauen, dessen der preußische Richterstand sich erfreut, würde<lb/>
die bloße Rücksicht auf ein sachgemäßes Verbiet uns ohne Bedenken das Amt<lb/>
der Jury auf ein Richtercollegium übertragen lassen. Es geschieht ja auch<lb/>
factisch, daß die Vergehen von drei Richtern, Übertretungen sogar von dem<lb/>
Einzelrichter abgeurtheilt werden. Aber dann müßte freilich dieses über die<lb/>
schwersten Criminalfülle urtheilende Richtercollegium aus mindestens 9 Personen<lb/>
bestehen, damit die Garantie, welche bei den Schwurgerichten schon in der<lb/>
Zahl der urtheilenden 12 Geschwornen und s Richter liegt, einigermaßen ein<lb/>
Aequivalent erhalte. Das würde dann die Kosten unseres Iustizwesms um</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0136] ches wohlverstanden kein Pcnrsgericht sein soll, durchweg ebenso wenig an seinem Platz, als man es in Staaten mit durchgeführter Rechtsgleichheit süg- lich über Fragen einer bestimmt ausgeprägten Standesehre z. B. der Offiziers¬ ehre entscheiden lassen kann. Abgesehen aber von solchen Ausnahmefällen, halten wir die Entwicklungsstufe, auf welcher die preußische und überhaupt die ganze deutsche Bevölkerung im Durchschnitt steht, sür vorgeschritten genug, um die Geschwornengerichte als das beste Mittel zur Entscheidung der Schuld¬ frage im Criminalproceß erscheinen zu lassen, und glauben, daß wenn diese Meinung heute noch von vielen nicht getheilt wird, die Schuld daran weniger den Geschwornengerichten, wie sie sein sollen und können, als einzelnen Män¬ geln ihrer heutigen Gestaltung zur Last fällt. Wir nehmen nach dem, was in dem vorhergehenden Artikel über das alte Verfahren gesagt worden ist, als zugestanden an, daß eine gesetzlich be¬ stimmte Bcweistheorie zur Ermittlung der Wahrheit das unzweckmäßigste Mittel ist. Das Leben schafft viel mannigfachere, zartere Nüancen, als der geist¬ vollste Gesetzgeber sie mit allem Beistand der Wissenschaft und Erfahrung vor¬ zusehen vermag. Wenn dem Richter vorgeschrieben ist, dies für unerwiesen zu halten, wenn nicht die bestimmten Beweismittel vorhanden sind, jenes sür ein Viertel, halb oder ganz erwiesen annehmen zu müssen, wenn gewisse Voraus¬ setzungen vorliegen, wird der richterlichen Ueberzeugung ein ungebührlicher Zwang angethan. Die Wahrheit kommt ebenso wenig ans Licht, wie die Ge¬ rechtigkeit zur Geltung, und das Urtheil wird zu einem mechanischen Anlegen der gewohnten Schablone unter dem Einfluß aller ähnlichen Präcedenzfälle. Seit nun der Angeklagte nicht mehr als willenloser Gegenstand in die Hände eines beinahe allmächtigen Richters gegeben war, konnte die einst so noth¬ wendige Schranke der gesetzlichen Beweistheorie fallen, und das Urtheil der freien, richterlichen Ueberzeugung anheimgestellt werden. Wir wollen keinen Augenblick bestreiten, daß der rechtsgelehrte Richter, wenn nur nicht eine be¬ ständige criminalistische Praxis ihn zu pessimistisch und deshalb befangen über die Schuld jedes Verdächtigen denken gelehrt hat, dazu ebenso befähigt, sogar befähigter ist als der Laiengeschworne. Bei der allgemeinen Achtung, dem wohlerworbenen Vertrauen, dessen der preußische Richterstand sich erfreut, würde die bloße Rücksicht auf ein sachgemäßes Verbiet uns ohne Bedenken das Amt der Jury auf ein Richtercollegium übertragen lassen. Es geschieht ja auch factisch, daß die Vergehen von drei Richtern, Übertretungen sogar von dem Einzelrichter abgeurtheilt werden. Aber dann müßte freilich dieses über die schwersten Criminalfülle urtheilende Richtercollegium aus mindestens 9 Personen bestehen, damit die Garantie, welche bei den Schwurgerichten schon in der Zahl der urtheilenden 12 Geschwornen und s Richter liegt, einigermaßen ein Aequivalent erhalte. Das würde dann die Kosten unseres Iustizwesms um

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/136
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/136>, abgerufen am 22.07.2024.