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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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vollkommnen platonischen Staates in Aussicht, das Vorbild aller andern
Staaten, den nachher vollständig berechtigten Rathgeber, Leiter, Moderator
und darum Beherrscher des Entwicklungsganges der europäischen Dinge.
Früher octroyirte man uns das russische Princip als Hort und Schirm der
legitimen Interessen, heut octroyirt man es als Bannerträger des politischen
und socialen Fortschritts. Damals war die Welt, welche nicht mit Rußland
ging, unrettbar der Revolution, der "Auflehnung gegen die göttliche Ordnung"
verfallen; heut wird derjenige als "Feind aller natürlichen Entwicklungen",
als "Gegner des europäischen Systems" verschrieen, welcher nicht auf Rußlands
vollkommen rückhaltlose, absolut humane Freiheitstendenzen schwört.

Namentlich bemüht man sich, -- um wieder auf unsere specielle An¬
gelegenheit zu kommen -- mit rapiden Uebersichten über die bis zum Nov.
v. I. durchlaufenen "Phasen des Entwicklungsganges der Leibeigenschafts¬
aufhebung" unvermerkt die Meinung in das öffentliche Bewußtsein einzufüh¬
ren, dasjenige, was heute geschehe, sei der logisch nothwendige Abschluß eines
seit Alexander 1. consequent angebahnten und von Nikolaus 1. bereits "mit
Kühnheit" verwirklichten Systems. Indem man die einzelnen Ukase und Ge¬
setze verschiedener Zeiten mit ihren Hauptbestimmungen nebeneinanderstellt,
empfängt der Leser allerdings den Eindruck, als sei alles nur im wohlwollend¬
sten Interesse für das Volk, ohne politische Nebenabsicht geschehen. Die
passive oder active Opposition dagegen erscheint in dieser Beleuchtung ganz
ausschließlich als barbarischer Egoismus der Besitzenden; jede Silbe muß zum
Verdammungsurtheil für die Grundherrn werden. -- Es kann natürlich auch
keinem Vernünftigen einfallen, eine Vertheidigung ihrer ungeschmälerten Besitz-
und Machtrcchte zu übernehmen. Wie die Dinge heut gestellt sind, muß viel¬
mehr der westeuropäischen Anschauung das russische Leibeigenschaftsvcrhältniß
vollkommen identisch mit dem anathemisirten Sklaventhum erscheinen. Fcictisch
sind auch die Sklaven mancher Länder, namentlich Südamerikas und seiner
Inseln, kaum schlimmer gehalten, als die große Mehrzahl der russischen Leib¬
eigenen. Aber während kein europäischer Staat in seinen Kolonien die Skla¬
verei eingeführt hat, während jeder sie blos duldete, ohne sie durch sein poli¬
tisches Princip zu begründen, hat in Nußland das Zarenthuin die Leibeigen¬
schaft gradezu erst geschaffen. Dann in späteren Jahrhunderten, bis auf die
neueste Zeit herab, wurde aber wiederum die Emancipationsgesetzgebung nur
als Mittel benutzt, jedes durch Reichthum oder Intelligenz eine Geltung neben
dem Zaren in Anspruch nehmende Element niederzudrücken. Und wenn im
letzten Jahrhundert unter verschiedenen Herrschern vereinzelte Gesetzgebungs¬
acte hervortreten, welche einer Milderung der Leibeigenschaftsverhültnisse die¬
nen , so bedarf es nur einer etwas genaueren Betrachtung der Umstände, unter
denen sie erfolgten, um darüber klar zu werden, daß das Humanitäts-


vollkommnen platonischen Staates in Aussicht, das Vorbild aller andern
Staaten, den nachher vollständig berechtigten Rathgeber, Leiter, Moderator
und darum Beherrscher des Entwicklungsganges der europäischen Dinge.
Früher octroyirte man uns das russische Princip als Hort und Schirm der
legitimen Interessen, heut octroyirt man es als Bannerträger des politischen
und socialen Fortschritts. Damals war die Welt, welche nicht mit Rußland
ging, unrettbar der Revolution, der „Auflehnung gegen die göttliche Ordnung"
verfallen; heut wird derjenige als „Feind aller natürlichen Entwicklungen",
als „Gegner des europäischen Systems" verschrieen, welcher nicht auf Rußlands
vollkommen rückhaltlose, absolut humane Freiheitstendenzen schwört.

Namentlich bemüht man sich, — um wieder auf unsere specielle An¬
gelegenheit zu kommen — mit rapiden Uebersichten über die bis zum Nov.
v. I. durchlaufenen „Phasen des Entwicklungsganges der Leibeigenschafts¬
aufhebung" unvermerkt die Meinung in das öffentliche Bewußtsein einzufüh¬
ren, dasjenige, was heute geschehe, sei der logisch nothwendige Abschluß eines
seit Alexander 1. consequent angebahnten und von Nikolaus 1. bereits „mit
Kühnheit" verwirklichten Systems. Indem man die einzelnen Ukase und Ge¬
setze verschiedener Zeiten mit ihren Hauptbestimmungen nebeneinanderstellt,
empfängt der Leser allerdings den Eindruck, als sei alles nur im wohlwollend¬
sten Interesse für das Volk, ohne politische Nebenabsicht geschehen. Die
passive oder active Opposition dagegen erscheint in dieser Beleuchtung ganz
ausschließlich als barbarischer Egoismus der Besitzenden; jede Silbe muß zum
Verdammungsurtheil für die Grundherrn werden. — Es kann natürlich auch
keinem Vernünftigen einfallen, eine Vertheidigung ihrer ungeschmälerten Besitz-
und Machtrcchte zu übernehmen. Wie die Dinge heut gestellt sind, muß viel¬
mehr der westeuropäischen Anschauung das russische Leibeigenschaftsvcrhältniß
vollkommen identisch mit dem anathemisirten Sklaventhum erscheinen. Fcictisch
sind auch die Sklaven mancher Länder, namentlich Südamerikas und seiner
Inseln, kaum schlimmer gehalten, als die große Mehrzahl der russischen Leib¬
eigenen. Aber während kein europäischer Staat in seinen Kolonien die Skla¬
verei eingeführt hat, während jeder sie blos duldete, ohne sie durch sein poli¬
tisches Princip zu begründen, hat in Nußland das Zarenthuin die Leibeigen¬
schaft gradezu erst geschaffen. Dann in späteren Jahrhunderten, bis auf die
neueste Zeit herab, wurde aber wiederum die Emancipationsgesetzgebung nur
als Mittel benutzt, jedes durch Reichthum oder Intelligenz eine Geltung neben
dem Zaren in Anspruch nehmende Element niederzudrücken. Und wenn im
letzten Jahrhundert unter verschiedenen Herrschern vereinzelte Gesetzgebungs¬
acte hervortreten, welche einer Milderung der Leibeigenschaftsverhültnisse die¬
nen , so bedarf es nur einer etwas genaueren Betrachtung der Umstände, unter
denen sie erfolgten, um darüber klar zu werden, daß das Humanitäts-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/13>, abgerufen am 29.06.2024.