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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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thun in die Gruft der Peter-Pauls-Citadelle hinabgesenkt worden ist. Denn
dieses Princip war im wahrhaft nationalen Russenthum ebenso wenig begrün¬
det, als es jemals zu einer Verständigung zwischen Rußland und Europa
führen konnte. Aber rückhaltlos kann der europäische Geist dem nunmehr zur
Herrschaft gelangten System nur insofern Willkommen zurufen, als dasselbe die
politischen Konsequenzen anzuerkennen scheint, welche sich aus der ma¬
teriellen Entwicklungsrichtung ergeben, in welche Rußland seit Peter 1.
durch den Zarenwillen genöthigt wurde. Die freiere Regung und Bewegung
der Geister ist eine Errungenschaft Rußlands, für welche wir freudigste Theil¬
nahme hegen dürfen, obgleich ihre soeben erst lallender Prcßstimmcn unsern
Errungenschaften und Bestrebungen keineswegs freundlich sind. Der Ueber¬
hebung eines plötzlichen Selbstgefühls kann man es indessen leicht nachsehen,
wenn nach so langem Nicktsgelten und gezwungenen Schweigen knabenhafte
Ueberschätzung der phantastisch anticipirten Zukunft ihrer Heimath neben Feind¬
seligkeit und Geringschätzung sür unsere Institutionen. Beargwöhnung unserer
Entwicklungen, Absprechen über unsere nationalen Wünsche und Bedürfnisse,
die ersten und fast einzigen Melodien sind, welche dort erklingen. Nur ist es
seltsam, wenn sofort auch nur derjenige Theil der Presse in Deutschland wohlunter¬
richtet und loyal heißt, welcher uns das heutige Nußland als "versöhnend,
vermittelnd und ausgleichend" vorführt. Es ist freilich dieselbe Presse, welche
in Bezug auf Deutschland jede Wiederbelebung verrotteter und verschollener
aristokratischer Ansprüche als historische Berechtigung in Schutz nimmt, wäh¬
rend sie in Bezug auf Rußland den Adel kurzweg verdammt, wenn er nur
zögernd, offenbar unwillig auf die Anregungen zur socialen Reform eingeht.
Uns muthet sie also zu. daß wir wieder nach dem russischen Standpunkte
zurücksinken, damit Rußland desto rascher aus gleicher Linie mit dem europäi¬
schen Leben stehe. Aber freilich ists äußerst bequem, indem man einen russi¬
schen Hofliberalismus affectirt, die große Masse glauben zu machen, man habe
g,u toirä in Bezug auf das deutsche Leben ebenfalls freisinnige Velleitäten. . . .

Wir verfolgen diese Nebenbemerkungen nicht weiter, obgleich sie unsers
Erachtens bei Europas Urtheilsformulirung über die russische Emancipations¬
frage sehr unmittelbar zu berücksichtigen sind. Daß aber die Bauernemanci¬
pation eine sociale Revolution involvirt, gestehen auch die russischen Stimmen
in vollster Ausdehnung zu. Sie nennen sie jedoch einen Triumph des Humani¬
tätsprincips, welchem jede Rücksicht des historischen Rechtes und Besitzes nach¬
stehen müsse. Man kennt ferner genugsam die übrige Phraseologie von der
daraus ersprießenden Verbrüderung Rußlands mit Europa, von dem Eintritt
seines Volkes in die Reihe der Culturnationen, von der Selbstbeschränkung
des Zarenabsolutismus u. s. w. Kurz, die darum klingenden Reden stellen
in dem Rußland nach der Emancipation so ziemlich die Verwirklichung des


thun in die Gruft der Peter-Pauls-Citadelle hinabgesenkt worden ist. Denn
dieses Princip war im wahrhaft nationalen Russenthum ebenso wenig begrün¬
det, als es jemals zu einer Verständigung zwischen Rußland und Europa
führen konnte. Aber rückhaltlos kann der europäische Geist dem nunmehr zur
Herrschaft gelangten System nur insofern Willkommen zurufen, als dasselbe die
politischen Konsequenzen anzuerkennen scheint, welche sich aus der ma¬
teriellen Entwicklungsrichtung ergeben, in welche Rußland seit Peter 1.
durch den Zarenwillen genöthigt wurde. Die freiere Regung und Bewegung
der Geister ist eine Errungenschaft Rußlands, für welche wir freudigste Theil¬
nahme hegen dürfen, obgleich ihre soeben erst lallender Prcßstimmcn unsern
Errungenschaften und Bestrebungen keineswegs freundlich sind. Der Ueber¬
hebung eines plötzlichen Selbstgefühls kann man es indessen leicht nachsehen,
wenn nach so langem Nicktsgelten und gezwungenen Schweigen knabenhafte
Ueberschätzung der phantastisch anticipirten Zukunft ihrer Heimath neben Feind¬
seligkeit und Geringschätzung sür unsere Institutionen. Beargwöhnung unserer
Entwicklungen, Absprechen über unsere nationalen Wünsche und Bedürfnisse,
die ersten und fast einzigen Melodien sind, welche dort erklingen. Nur ist es
seltsam, wenn sofort auch nur derjenige Theil der Presse in Deutschland wohlunter¬
richtet und loyal heißt, welcher uns das heutige Nußland als „versöhnend,
vermittelnd und ausgleichend" vorführt. Es ist freilich dieselbe Presse, welche
in Bezug auf Deutschland jede Wiederbelebung verrotteter und verschollener
aristokratischer Ansprüche als historische Berechtigung in Schutz nimmt, wäh¬
rend sie in Bezug auf Rußland den Adel kurzweg verdammt, wenn er nur
zögernd, offenbar unwillig auf die Anregungen zur socialen Reform eingeht.
Uns muthet sie also zu. daß wir wieder nach dem russischen Standpunkte
zurücksinken, damit Rußland desto rascher aus gleicher Linie mit dem europäi¬
schen Leben stehe. Aber freilich ists äußerst bequem, indem man einen russi¬
schen Hofliberalismus affectirt, die große Masse glauben zu machen, man habe
g,u toirä in Bezug auf das deutsche Leben ebenfalls freisinnige Velleitäten. . . .

Wir verfolgen diese Nebenbemerkungen nicht weiter, obgleich sie unsers
Erachtens bei Europas Urtheilsformulirung über die russische Emancipations¬
frage sehr unmittelbar zu berücksichtigen sind. Daß aber die Bauernemanci¬
pation eine sociale Revolution involvirt, gestehen auch die russischen Stimmen
in vollster Ausdehnung zu. Sie nennen sie jedoch einen Triumph des Humani¬
tätsprincips, welchem jede Rücksicht des historischen Rechtes und Besitzes nach¬
stehen müsse. Man kennt ferner genugsam die übrige Phraseologie von der
daraus ersprießenden Verbrüderung Rußlands mit Europa, von dem Eintritt
seines Volkes in die Reihe der Culturnationen, von der Selbstbeschränkung
des Zarenabsolutismus u. s. w. Kurz, die darum klingenden Reden stellen
in dem Rußland nach der Emancipation so ziemlich die Verwirklichung des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/12>, abgerufen am 26.06.2024.