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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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Diese aber, welche bei uns wenig vor der Haft rechtskräftig Verurtheilter
voraus hat, muß dem gebildeten und seiner Freiheit gewohnten Menschen zur
wahren Tortur werden. Wer sich diese Lage nur lebhast vorstellt und dabei
die leichte Möglichkeit erwägt, durch den willkürlich ausgebeuteten Schatten
irgend eines Verdachts selbst in sie zu gerathen, wird ebenso wie wir die Nach¬
forschung nach Verbrechen in die Hände einer Behörde gelegt wünschen, welche
strenger als die Polizei an Beobachtung von Gesetzen gebunden ist, die nicht
umsonst zum Schutz der persönlichen Freiheit und des Hausrechts gegeben
wurden. Die Gefahr einer längern Voruntersuchungshast wird um so größer
bei der Art, wie das erste Stadium des Criminalprocesses bei uns behandelt
wird. In England ist das öffentliche Verfahren hier wie im ganzen Proceß
durchgeführt. Ein richterlicher Beamter leitet es und der Verdächtige darf
sich von vornherein des Beistandes eines Vertheidigers bedienen. Protokolle
werden nur der Information halber geführt. In Preußen dagegen gilt für
die Voruntersuchung noch ganz das alte Jnquisitionsverfahren. Von Oeffent-
lichkeit, von Einmischung der Vertheidigung ist keine Rede. Der Emzclrichter
mit .einem Protokollführer vernimmt den Inculpaten und die Zeugen bei ge¬
schlossenen Thüren, unter steter Beeinflussung der Staatsanwaltschaft und häuft
Actenstöße an, die zu der Wichtigkeit des Untersuchungsfalls oft in gar keinem
Verhältniß stehen. Das Urtheil soll zwar nur nach dem Ergebniß der münd¬
lichen Hauptverhandlung erfolgen. Da aber die Zeugen in der Vorunter¬
suchung schon vereidigt worden sind, so bleiben ihre dort gemachten Aussagen,
selbst wo der Voruntersuchungsrichter sie mißverstanden zu Protokoll gebracht
haben sollte, auf die Hauptverhandlung von großem Einfluß und diese würde
bisweilen als eine ziemlich überflüssige Wiederholung jenes mündlichen Vorspiels
erscheinen, bliebe nicht die Vorführung noch nicht vernommener Zeugen dem
Angeklagten bis zur Hauptverhandlung unbenommen. Die Umstände, über
welche diese Zeugen vernommen werden sollen, müssen aber vorher genau
angegeben werden und dem Gerichtshof erheblich scheinen. Da der Angeklagte
jedoch diese Bestimmung entweder nicht kennt, oder nicht gebildet genug ist,
den richtigen Gebrauch von ihr zu machen; da bei Vergehen ein Vertheidiger
ex ot'üeio nicht bestellt wird, kommen die wichtigsten Entlastungszeugen oft
entweder gar nicht vor. und die Verurtheilung erfolgt, oberste werden durch
einen auf Wunsch des Angeklagten später hinzugezogenen Vertheidiger vorge¬
laden, und der Staatsanwalt sieht sich dann nach geschehener Beweisauf¬
nahme veranlaßt, seine ganze Anklage zurückzunehmen. Die Ungerechtigkeit
in jenem, die vergeblichen Arbeiten, Kosten, Quälereien von Richtern, An¬
geklagten, Zeugen in diesem Falle, waren vermieden, wenn auch die Vor¬
untersuchung öffentlich geführt und der Vertheidiger dabei hinzugezogen würde.
Der Staatsanwaltschaft gegenüber, welche zwar auch darüber wachen soll,


Diese aber, welche bei uns wenig vor der Haft rechtskräftig Verurtheilter
voraus hat, muß dem gebildeten und seiner Freiheit gewohnten Menschen zur
wahren Tortur werden. Wer sich diese Lage nur lebhast vorstellt und dabei
die leichte Möglichkeit erwägt, durch den willkürlich ausgebeuteten Schatten
irgend eines Verdachts selbst in sie zu gerathen, wird ebenso wie wir die Nach¬
forschung nach Verbrechen in die Hände einer Behörde gelegt wünschen, welche
strenger als die Polizei an Beobachtung von Gesetzen gebunden ist, die nicht
umsonst zum Schutz der persönlichen Freiheit und des Hausrechts gegeben
wurden. Die Gefahr einer längern Voruntersuchungshast wird um so größer
bei der Art, wie das erste Stadium des Criminalprocesses bei uns behandelt
wird. In England ist das öffentliche Verfahren hier wie im ganzen Proceß
durchgeführt. Ein richterlicher Beamter leitet es und der Verdächtige darf
sich von vornherein des Beistandes eines Vertheidigers bedienen. Protokolle
werden nur der Information halber geführt. In Preußen dagegen gilt für
die Voruntersuchung noch ganz das alte Jnquisitionsverfahren. Von Oeffent-
lichkeit, von Einmischung der Vertheidigung ist keine Rede. Der Emzclrichter
mit .einem Protokollführer vernimmt den Inculpaten und die Zeugen bei ge¬
schlossenen Thüren, unter steter Beeinflussung der Staatsanwaltschaft und häuft
Actenstöße an, die zu der Wichtigkeit des Untersuchungsfalls oft in gar keinem
Verhältniß stehen. Das Urtheil soll zwar nur nach dem Ergebniß der münd¬
lichen Hauptverhandlung erfolgen. Da aber die Zeugen in der Vorunter¬
suchung schon vereidigt worden sind, so bleiben ihre dort gemachten Aussagen,
selbst wo der Voruntersuchungsrichter sie mißverstanden zu Protokoll gebracht
haben sollte, auf die Hauptverhandlung von großem Einfluß und diese würde
bisweilen als eine ziemlich überflüssige Wiederholung jenes mündlichen Vorspiels
erscheinen, bliebe nicht die Vorführung noch nicht vernommener Zeugen dem
Angeklagten bis zur Hauptverhandlung unbenommen. Die Umstände, über
welche diese Zeugen vernommen werden sollen, müssen aber vorher genau
angegeben werden und dem Gerichtshof erheblich scheinen. Da der Angeklagte
jedoch diese Bestimmung entweder nicht kennt, oder nicht gebildet genug ist,
den richtigen Gebrauch von ihr zu machen; da bei Vergehen ein Vertheidiger
ex ot'üeio nicht bestellt wird, kommen die wichtigsten Entlastungszeugen oft
entweder gar nicht vor. und die Verurtheilung erfolgt, oberste werden durch
einen auf Wunsch des Angeklagten später hinzugezogenen Vertheidiger vorge¬
laden, und der Staatsanwalt sieht sich dann nach geschehener Beweisauf¬
nahme veranlaßt, seine ganze Anklage zurückzunehmen. Die Ungerechtigkeit
in jenem, die vergeblichen Arbeiten, Kosten, Quälereien von Richtern, An¬
geklagten, Zeugen in diesem Falle, waren vermieden, wenn auch die Vor¬
untersuchung öffentlich geführt und der Vertheidiger dabei hinzugezogen würde.
Der Staatsanwaltschaft gegenüber, welche zwar auch darüber wachen soll,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/119>, abgerufen am 22.07.2024.