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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band.

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daß kein Unschuldiger verfolgt werde, aber natürlich weit mehr von der posi¬
tiven Seite ihrer Aufgabe durchdrungen ist, hat der rechtsunkundige, in der
Regel ganz ungebildete Verbrecher eine zu schwache Position. Man wird mir
einwenden, daß Oeffentlichkeit und Vertheidigung, schon in der Voruntersuchung
angewandt, nur zur Verdunklung des wahren Sachverhalts führen müßten.
Die Oeffentlichkeit schadet aber dem Verdächtigen auf einer Seite mindestens
ebenso viel, als sie ihm aus der andern nützt, und die Vertheidiger, welche
von einem Criminalproceß in der Regel keine goldenen Berge zu hoffen haben,
hier, statt der Verführung in sophistisch-pathetischen Plaidoyers zu glänzen,
einer unbestechlichen öffentlichen Controle ausgesetzt sind, werden ohne Frage
rabulistische Taschenspielerkunststücke vermeiden, da jeder ehrenhafte Anwalt seine
Ausgabe nicht in der Straflosigkeit des Verbrechens, sondern in dem Beistand
gegen unschuldig Verdächtige sucht und suchen muß, wenn er Achtung vor
seinem Beruf fordern will. Es macht sich seit einiger Zeit auch vor den Ge¬
schwornen ein Umschwung in dem Benehmen von Anwälten und Vertheidigern
bemerkbar. Die leeren Redeübungen werden seltner, und der sachgemäßen
Anklage antwortet eine sachgemäße Vertheidigung, die den Geschwornen ihre
Pflicht erleichtert und dem glänzenden Ruf manches Cicero der Assisen zu
schaden beginnt.

Mit dem Schluß der Voruntersuchung, welche übrigens nur bei Verbre¬
chen vom Gericht ex cMeio, bei Vergehen auf Antrag des Staatsanwalts ge¬
führt werden muß, beschließt die Gerichtsabtheilung nach Anhörung des Staais-
anwalts über Freilassung oder Versetzung in den Anklagestand, zu der bei
Verbrechen noch ein Beschluß der Criminalabtheilung des Obergerichts treten
muß, ohne weitern ersichtlichen Grund, als weil es indem französischen Vor¬
bild eine besondere clramw-o ä'accusation außer der clurmdrs 6u Conseil der
Untergeriehte gibt. Von diesem Augenblick an tritt der Proceß völlig unter
die Principien des neuen Verfahrens, dessen viele und große Vorzüge vor
dem frühern wir erst ganz würdigen werden, wenn wir uns jenes noch ein¬
mal vergegenwärtigt haben.

Der Keim des Jnquisitionsprvcesses kam schon im 13. Jahrhundert durch
die Kirche nach Deutschland, in einer Zeit, da der traurige Verfall alles öffent¬
lichen Lebens jenen großartigen und glänzenden Organismus als einziges
Beispiel sicherer Stetigkeit hinstellte und seinen Einrichtungen überall Bewun-
drung und Nachahmung verschaffte. Die Carolina fixirte dann die über-
kommnm Principien zu einem gemeinen deutschen Proceß. Zwar statuirt sie
noch neben dem Jnquisitionsproceß den Anklageproceß, behält selbst die
Schöffen des altgermanischen Rechts neben dem Richter als Urtheilsfinder bei.
Aber die Kosten und Verantwortlichkeit, denen sich der Privatankläger aus¬
setzte, machten den Jnquisitionsproceß zur Regel, und die Schöffen, welche


daß kein Unschuldiger verfolgt werde, aber natürlich weit mehr von der posi¬
tiven Seite ihrer Aufgabe durchdrungen ist, hat der rechtsunkundige, in der
Regel ganz ungebildete Verbrecher eine zu schwache Position. Man wird mir
einwenden, daß Oeffentlichkeit und Vertheidigung, schon in der Voruntersuchung
angewandt, nur zur Verdunklung des wahren Sachverhalts führen müßten.
Die Oeffentlichkeit schadet aber dem Verdächtigen auf einer Seite mindestens
ebenso viel, als sie ihm aus der andern nützt, und die Vertheidiger, welche
von einem Criminalproceß in der Regel keine goldenen Berge zu hoffen haben,
hier, statt der Verführung in sophistisch-pathetischen Plaidoyers zu glänzen,
einer unbestechlichen öffentlichen Controle ausgesetzt sind, werden ohne Frage
rabulistische Taschenspielerkunststücke vermeiden, da jeder ehrenhafte Anwalt seine
Ausgabe nicht in der Straflosigkeit des Verbrechens, sondern in dem Beistand
gegen unschuldig Verdächtige sucht und suchen muß, wenn er Achtung vor
seinem Beruf fordern will. Es macht sich seit einiger Zeit auch vor den Ge¬
schwornen ein Umschwung in dem Benehmen von Anwälten und Vertheidigern
bemerkbar. Die leeren Redeübungen werden seltner, und der sachgemäßen
Anklage antwortet eine sachgemäße Vertheidigung, die den Geschwornen ihre
Pflicht erleichtert und dem glänzenden Ruf manches Cicero der Assisen zu
schaden beginnt.

Mit dem Schluß der Voruntersuchung, welche übrigens nur bei Verbre¬
chen vom Gericht ex cMeio, bei Vergehen auf Antrag des Staatsanwalts ge¬
führt werden muß, beschließt die Gerichtsabtheilung nach Anhörung des Staais-
anwalts über Freilassung oder Versetzung in den Anklagestand, zu der bei
Verbrechen noch ein Beschluß der Criminalabtheilung des Obergerichts treten
muß, ohne weitern ersichtlichen Grund, als weil es indem französischen Vor¬
bild eine besondere clramw-o ä'accusation außer der clurmdrs 6u Conseil der
Untergeriehte gibt. Von diesem Augenblick an tritt der Proceß völlig unter
die Principien des neuen Verfahrens, dessen viele und große Vorzüge vor
dem frühern wir erst ganz würdigen werden, wenn wir uns jenes noch ein¬
mal vergegenwärtigt haben.

Der Keim des Jnquisitionsprvcesses kam schon im 13. Jahrhundert durch
die Kirche nach Deutschland, in einer Zeit, da der traurige Verfall alles öffent¬
lichen Lebens jenen großartigen und glänzenden Organismus als einziges
Beispiel sicherer Stetigkeit hinstellte und seinen Einrichtungen überall Bewun-
drung und Nachahmung verschaffte. Die Carolina fixirte dann die über-
kommnm Principien zu einem gemeinen deutschen Proceß. Zwar statuirt sie
noch neben dem Jnquisitionsproceß den Anklageproceß, behält selbst die
Schöffen des altgermanischen Rechts neben dem Richter als Urtheilsfinder bei.
Aber die Kosten und Verantwortlichkeit, denen sich der Privatankläger aus¬
setzte, machten den Jnquisitionsproceß zur Regel, und die Schöffen, welche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105810/120>, abgerufen am 22.07.2024.