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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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und durch die Kunst des Nachschaffens, die bei einem gegebenen Stoff sich
ebenso geltend macht, wie bei einem erfundenen. Nicht der geistreiche Dilet¬
tant ist im Stande, ein wahrhaft unterhaltendes Gcschichtbuch zu schreiben,
sondern nur der tiefere Kenner.

Es scheint uns nun, als ob die. echte Kunst der Geschichtschreibung zum
Theil dadurch verkümmert wird, daß wir uns noch immer zu sehr an die
Weise der Griechen und Römer halten. Am meisten fällt das bei mittelalter¬
lichen Stoffen auf. Die Griechen und Römer schrieben entweder als Augen¬
zeugen oder nach der Tradition. Die Vergangenheit, die sie darstellten, er¬
schien ihnen noch immer im Licht der Gegenwart, wie denn auch in jener
Zeit die Menschheit noch nicht so gewaltige Umwälzungen durchgemacht hatte.
So schrieben auch die Italiener, von denen die Kunst der modernen Geschicht¬
schreibung ausgeht, so die Schotten des vongen Jahrhunderts und ihre
Schüler. Sie haben mit mehr oder minder Eifer die mittelalterlichen Chro¬
niken durchforscht, aber nur um die Quintessenz der Thatsachen daraus kennen
zu lernen, und diese in der Weise unserer Zeit vorzutragen. Nun hat man
zwar neuerdings die früher so verachteten Mönchschroniken, auch in Beziehung
auf die Form besser würdigen gelernt, sie sind durch Uebersetzungen, wenn auch
lange noch nicht im hinreichenden Maß, im Publicum verbreitet, und man
findet an der Naivetät und Derbheit ihrer Sprache auch da Interesse, wo
der Stoff uns nicht nahe liegt. Die Geschichtschreibung selbst hat noch nicht
den nöthigen Nutzen daraus gezogen, und grade ein so bedeutendes und auch
in vaterländischer Beziehung nützliches Buch, wie das vorliegende, scheint
eine gute Gelegenheit, die Frage zu erörtern, wie man die Quellen, nament¬
lich des Mittelalters, dazu.benutzen soll, der Darstellung Farbe und künst¬
lerische Form zu geben? eine Frage, die ganz unabhängig ist von der zweiten,
wie man aus ihnen durch methodische Kritik den Cxtract der Wahrheit zieht.
Die letzte Frage ist in unsern Schulen in einer segensreichen Weise zum Ab¬
schluß gebracht worden, über die erstere läßt sich aber noch viel sagen.

Es ist vielleicht am zweckmäßigsten, bei einer Frage, in der so viele sich
durchkreuzende Gesichtspunkte ins Spiel kommen, mit einem bestimmten, in
gewissem Sinn classischen Beispiel zu beginnen. Das erste Werk der deutschen
Literatur, in welchem sich der Historiker mit Bewußtsein die Aufgabe eines
Kunstwerks stellt, ist Müllers Schweizergeschichte -- Mösers osnabrückschc
Geschichte hat ihren Werth nach einer andern Seite hin.

Müller hat über die historische Kunstform vielfach nachgedacht, und eine
ernsthaftere Arbeit darauf verwendet, als er zugeben will, selbst in seinen
Briefen. Freilich influirte seine Methode, nach Excerpten zu arbeiten, stark
auf seinen Stil; er hatte die Hauptpunkte seiner Geschichte in den Worten
der Quelle und zum Theil auch mit den Reflexionen des Chronisten in seinen


und durch die Kunst des Nachschaffens, die bei einem gegebenen Stoff sich
ebenso geltend macht, wie bei einem erfundenen. Nicht der geistreiche Dilet¬
tant ist im Stande, ein wahrhaft unterhaltendes Gcschichtbuch zu schreiben,
sondern nur der tiefere Kenner.

Es scheint uns nun, als ob die. echte Kunst der Geschichtschreibung zum
Theil dadurch verkümmert wird, daß wir uns noch immer zu sehr an die
Weise der Griechen und Römer halten. Am meisten fällt das bei mittelalter¬
lichen Stoffen auf. Die Griechen und Römer schrieben entweder als Augen¬
zeugen oder nach der Tradition. Die Vergangenheit, die sie darstellten, er¬
schien ihnen noch immer im Licht der Gegenwart, wie denn auch in jener
Zeit die Menschheit noch nicht so gewaltige Umwälzungen durchgemacht hatte.
So schrieben auch die Italiener, von denen die Kunst der modernen Geschicht¬
schreibung ausgeht, so die Schotten des vongen Jahrhunderts und ihre
Schüler. Sie haben mit mehr oder minder Eifer die mittelalterlichen Chro¬
niken durchforscht, aber nur um die Quintessenz der Thatsachen daraus kennen
zu lernen, und diese in der Weise unserer Zeit vorzutragen. Nun hat man
zwar neuerdings die früher so verachteten Mönchschroniken, auch in Beziehung
auf die Form besser würdigen gelernt, sie sind durch Uebersetzungen, wenn auch
lange noch nicht im hinreichenden Maß, im Publicum verbreitet, und man
findet an der Naivetät und Derbheit ihrer Sprache auch da Interesse, wo
der Stoff uns nicht nahe liegt. Die Geschichtschreibung selbst hat noch nicht
den nöthigen Nutzen daraus gezogen, und grade ein so bedeutendes und auch
in vaterländischer Beziehung nützliches Buch, wie das vorliegende, scheint
eine gute Gelegenheit, die Frage zu erörtern, wie man die Quellen, nament¬
lich des Mittelalters, dazu.benutzen soll, der Darstellung Farbe und künst¬
lerische Form zu geben? eine Frage, die ganz unabhängig ist von der zweiten,
wie man aus ihnen durch methodische Kritik den Cxtract der Wahrheit zieht.
Die letzte Frage ist in unsern Schulen in einer segensreichen Weise zum Ab¬
schluß gebracht worden, über die erstere läßt sich aber noch viel sagen.

Es ist vielleicht am zweckmäßigsten, bei einer Frage, in der so viele sich
durchkreuzende Gesichtspunkte ins Spiel kommen, mit einem bestimmten, in
gewissem Sinn classischen Beispiel zu beginnen. Das erste Werk der deutschen
Literatur, in welchem sich der Historiker mit Bewußtsein die Aufgabe eines
Kunstwerks stellt, ist Müllers Schweizergeschichte — Mösers osnabrückschc
Geschichte hat ihren Werth nach einer andern Seite hin.

Müller hat über die historische Kunstform vielfach nachgedacht, und eine
ernsthaftere Arbeit darauf verwendet, als er zugeben will, selbst in seinen
Briefen. Freilich influirte seine Methode, nach Excerpten zu arbeiten, stark
auf seinen Stil; er hatte die Hauptpunkte seiner Geschichte in den Worten
der Quelle und zum Theil auch mit den Reflexionen des Chronisten in seinen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/213>, abgerufen am 27.07.2024.