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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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unklar umschriebenen Kunstbegriffs der Natur des Stoffes Gewalt anthat,
weit entfernt sind. Wir gehen nur von der Erfahrung aus, daß unsere neuen
Geschichtschreiber ein größeres Publicum wünschen, ein Publicum, welches
über die Kreise der eigentlichen Gelehrsamkeit hinausgeht. Um dieses zu
gewinnen, müssen sie es interessiren. Es ist ein ganz ungerechtfertigter An¬
spruch, wenn man es sür eine Pflicht des Patriotismus ausgibt, Werke zu
lesen, die über vaterländische Geschichte handeln. Das Publicum liest die¬
jenigen Bücher" die es interessiren, es liest den Macaulay und läßt die zahl¬
reichen Handbücher über deutsche Geschichte ungelesen, nicht wegen des Stof¬
fes, nicht weil die Händel der Engländer unter König Wilhelm ihm näher
liegen, als was sich unter den Hohenstaufen oder zur Zeit der Habsburger
begab, sondern weil der englische Geschichtschreiber geschickter und interessanter
erzählt. Es ist beim historischen Kunstwerk wie beim poetischen: der Stoff
und was damit zusammenhängt, die Gesinnung, gehört wesentlich zur Sache,
aber das Entscheidende ist die .Kunst des Geschichtschreibers. Warum greift
alle Welt zu Nantes Päpsten, zu Schlossers Geschichte des 18. Jahrhunderts,
zu Mommsens römischer Geschichte?, Den wissenschaftlichen Werth dieser Bücher
zu ermessen, ist das Publicum nicht im Stande; es liest sie aber, weil sie es
amüsiren -- um diesen höchst trivialen, aber bezeichnenden Ausdruck zu
gebrauchen. Aus demselben Grund geht man ins Schauspiel, aus demselben
Grund liest man Romane. Wenn man durch sie noch außerdem sittlich ver¬
edelt wird, mit tieferer Einsicht bereichert, mit erhabenen Idealen erfüllt, so
ist es um so besser; aber zunächst verlangt man von dem Buch, und hat
Recht es zu verlangen, daß es anzieht und fesselt, ja wir wagen die Be¬
hauptung -- es ist hier zunächst nur von historischen Werken "die Rxde --,
daß diejenigen Werke uns am meisten belehren, die uns am meisten unter¬
halten, und daß die Gesetze, wonach beides geschieht, in letzter Instanz zu¬
sammenfallen.

Denn was verlangen wir von dem Geschichtswerk, das uns unterhalten
soll? Wir verlangen eine deutliche, klare, in ihren Motiven und ihrem Zu¬
sammenhang vollständig verständliche Erzählung, in der wir nicht durch un¬
nützes Beiwerk gestört werden, in der die Personen und Zustände uns mit
sinnlicher Bestimmtheit entgegentreten. Wir verlangen von den Reflexionen,
die der Geschichtschreiber ausspricht, oder auch nur in uns anregt, daß wir
den Eindruck einer reifern Natur empfangen, von der wir etwas lernen können,
die uns zugleich überrascht und überzeugt, wir verlangen, daß durch geschickte
Anordnung des Materials die Idee des Zusainmengehörigcir eingeschärft,
daß jede allgemeine Regel durch bestimmte charakteristische Beispiele versinnlicht
wird. Das alles erwirbt man nicht durch das Studium der Rhetorik oder
des abstracten Stils, sondern durch vollständige Beherrschung des Gegenstandes


unklar umschriebenen Kunstbegriffs der Natur des Stoffes Gewalt anthat,
weit entfernt sind. Wir gehen nur von der Erfahrung aus, daß unsere neuen
Geschichtschreiber ein größeres Publicum wünschen, ein Publicum, welches
über die Kreise der eigentlichen Gelehrsamkeit hinausgeht. Um dieses zu
gewinnen, müssen sie es interessiren. Es ist ein ganz ungerechtfertigter An¬
spruch, wenn man es sür eine Pflicht des Patriotismus ausgibt, Werke zu
lesen, die über vaterländische Geschichte handeln. Das Publicum liest die¬
jenigen Bücher» die es interessiren, es liest den Macaulay und läßt die zahl¬
reichen Handbücher über deutsche Geschichte ungelesen, nicht wegen des Stof¬
fes, nicht weil die Händel der Engländer unter König Wilhelm ihm näher
liegen, als was sich unter den Hohenstaufen oder zur Zeit der Habsburger
begab, sondern weil der englische Geschichtschreiber geschickter und interessanter
erzählt. Es ist beim historischen Kunstwerk wie beim poetischen: der Stoff
und was damit zusammenhängt, die Gesinnung, gehört wesentlich zur Sache,
aber das Entscheidende ist die .Kunst des Geschichtschreibers. Warum greift
alle Welt zu Nantes Päpsten, zu Schlossers Geschichte des 18. Jahrhunderts,
zu Mommsens römischer Geschichte?, Den wissenschaftlichen Werth dieser Bücher
zu ermessen, ist das Publicum nicht im Stande; es liest sie aber, weil sie es
amüsiren — um diesen höchst trivialen, aber bezeichnenden Ausdruck zu
gebrauchen. Aus demselben Grund geht man ins Schauspiel, aus demselben
Grund liest man Romane. Wenn man durch sie noch außerdem sittlich ver¬
edelt wird, mit tieferer Einsicht bereichert, mit erhabenen Idealen erfüllt, so
ist es um so besser; aber zunächst verlangt man von dem Buch, und hat
Recht es zu verlangen, daß es anzieht und fesselt, ja wir wagen die Be¬
hauptung — es ist hier zunächst nur von historischen Werken «die Rxde —,
daß diejenigen Werke uns am meisten belehren, die uns am meisten unter¬
halten, und daß die Gesetze, wonach beides geschieht, in letzter Instanz zu¬
sammenfallen.

Denn was verlangen wir von dem Geschichtswerk, das uns unterhalten
soll? Wir verlangen eine deutliche, klare, in ihren Motiven und ihrem Zu¬
sammenhang vollständig verständliche Erzählung, in der wir nicht durch un¬
nützes Beiwerk gestört werden, in der die Personen und Zustände uns mit
sinnlicher Bestimmtheit entgegentreten. Wir verlangen von den Reflexionen,
die der Geschichtschreiber ausspricht, oder auch nur in uns anregt, daß wir
den Eindruck einer reifern Natur empfangen, von der wir etwas lernen können,
die uns zugleich überrascht und überzeugt, wir verlangen, daß durch geschickte
Anordnung des Materials die Idee des Zusainmengehörigcir eingeschärft,
daß jede allgemeine Regel durch bestimmte charakteristische Beispiele versinnlicht
wird. Das alles erwirbt man nicht durch das Studium der Rhetorik oder
des abstracten Stils, sondern durch vollständige Beherrschung des Gegenstandes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/212>, abgerufen am 27.07.2024.