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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band.

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Papieren, bevor er an die Ausarbeitung ging. Allein dieser äußerliche Um¬
stand kam nur der innern Ueberzeugung zu Hilfe. Er bemühte sich, seine
Geschichten in dem Ton seiner Quellen zu erzählen, nur so, daß sein aus
vielfachen Quellen gewonnenes Wissen und seine moderne Nildung dabei nicht
verloren ging. Es sollte gewissermaßen eine ideale Quelle hergestellt werden,
die das Wissen und die Einsicht aller Zeitgenossen in sich vereinigte. Man
kann nicht leugnen, daß er dadurch zum Theil sehr große Wirkungen hervor¬
brachte. Schilderungen, wie die von der Schlacht bei Sempach und Nancy,
auch von der Verschwörung im nulli, wird man noch heut mit Erbauung
lesen, die individuellen Fehler, die uns hier nichts angehn, bei Seite gelassen.
Es kam ihm dabei die eigenthümliche Concentration seines Stoffes zu Hilfe,
der sich innerhalb bestimmter localer Grenzen bewegt und bei der großen
Einheit der Zustände auch die Einheit des Tons verstattet; hätte er sein Ge¬
schichtswerk bis über die Reformation hinausgeführt, so würde ihm die Form
viel größere Schwierigkeiten gemacht haben, wie man das schon aus seinen
24 Büchern allgemeiner Geschichte entnehmen kann. Aber schon in der
Schweizergeschichte treten Uebelstände dieser Form deutlich hervor. Wenn zu
einzelnen großen Episoden, namentlich da, wo das Gemüth in Anspruch ge¬
nommen wird, der Chronikenstil vortrefflich paßt, so ermüdet er durch seine
Ausdehnung auf die ganze Geschichte, nicht blos wegen der Ausführlichkeit,
mit der auch unbedeutende Umstände dargestellt sind, sondern hauptsächlich
wegen der künstlich gesteigerten Stimmung. Diese Art von Naivetät ergibt
sich sehr leicht, um bei der Schillerschen Terminologie stehn zu bleiben, als
ein Product der Sentimentalität. Man merkt doch heraus, daß nicht ein
Schweizer des 14. oder 1,5. Jahrhunderts, sondern ein gebildeter Mann
unserer Zeit diese Chronik geschrieben hat, kurz daß man mit uns Komödie
spielt. Nichts widerspricht der wahren Einfachheit so sehr, als die studirte
Simplicität, welche sich künstlich in den Voraussetzungen ihrer Bildung
zurückschraubt. Das ist nicht blos ein individueller Fehler, er liegt in der
Gattung, wie man sich in Barantes Burgundischer Geschichte davon über¬
zeugen kann, die im Wesentlichen von demselben Princip ausgeht. Am
besten gelingt so etwas noch in kleinen populären Schriften, wie z. B. in
Scotts Erzählung eines Großvaters aus der schottischen Gesckichte. wo frei¬
lich die Geschichte ganz in die Legende aufgeht. Anderweitige Fehler gehn
aus der liebenswürdigen, jedem neuen Eindruck zugänglichen Natur Müllers
hervor. Die Mosaikarbeit aus den verschiedenen Excerpten verräth sich näm¬
lich auch dadurch, daß die Urtheile nach den Quellen wechseln. Dieser Uebel¬
stand wäre bis zu einem gewissen Grade zu vermeiden, der vorhcrgcnannte
aber nicht. Man hat immer das Gefühl, daß der Geschichtschreiber eine
Maske trägt, die ihm nicht ziemt, und dabei geht der Hauptreiz der Quellen


Papieren, bevor er an die Ausarbeitung ging. Allein dieser äußerliche Um¬
stand kam nur der innern Ueberzeugung zu Hilfe. Er bemühte sich, seine
Geschichten in dem Ton seiner Quellen zu erzählen, nur so, daß sein aus
vielfachen Quellen gewonnenes Wissen und seine moderne Nildung dabei nicht
verloren ging. Es sollte gewissermaßen eine ideale Quelle hergestellt werden,
die das Wissen und die Einsicht aller Zeitgenossen in sich vereinigte. Man
kann nicht leugnen, daß er dadurch zum Theil sehr große Wirkungen hervor¬
brachte. Schilderungen, wie die von der Schlacht bei Sempach und Nancy,
auch von der Verschwörung im nulli, wird man noch heut mit Erbauung
lesen, die individuellen Fehler, die uns hier nichts angehn, bei Seite gelassen.
Es kam ihm dabei die eigenthümliche Concentration seines Stoffes zu Hilfe,
der sich innerhalb bestimmter localer Grenzen bewegt und bei der großen
Einheit der Zustände auch die Einheit des Tons verstattet; hätte er sein Ge¬
schichtswerk bis über die Reformation hinausgeführt, so würde ihm die Form
viel größere Schwierigkeiten gemacht haben, wie man das schon aus seinen
24 Büchern allgemeiner Geschichte entnehmen kann. Aber schon in der
Schweizergeschichte treten Uebelstände dieser Form deutlich hervor. Wenn zu
einzelnen großen Episoden, namentlich da, wo das Gemüth in Anspruch ge¬
nommen wird, der Chronikenstil vortrefflich paßt, so ermüdet er durch seine
Ausdehnung auf die ganze Geschichte, nicht blos wegen der Ausführlichkeit,
mit der auch unbedeutende Umstände dargestellt sind, sondern hauptsächlich
wegen der künstlich gesteigerten Stimmung. Diese Art von Naivetät ergibt
sich sehr leicht, um bei der Schillerschen Terminologie stehn zu bleiben, als
ein Product der Sentimentalität. Man merkt doch heraus, daß nicht ein
Schweizer des 14. oder 1,5. Jahrhunderts, sondern ein gebildeter Mann
unserer Zeit diese Chronik geschrieben hat, kurz daß man mit uns Komödie
spielt. Nichts widerspricht der wahren Einfachheit so sehr, als die studirte
Simplicität, welche sich künstlich in den Voraussetzungen ihrer Bildung
zurückschraubt. Das ist nicht blos ein individueller Fehler, er liegt in der
Gattung, wie man sich in Barantes Burgundischer Geschichte davon über¬
zeugen kann, die im Wesentlichen von demselben Princip ausgeht. Am
besten gelingt so etwas noch in kleinen populären Schriften, wie z. B. in
Scotts Erzählung eines Großvaters aus der schottischen Gesckichte. wo frei¬
lich die Geschichte ganz in die Legende aufgeht. Anderweitige Fehler gehn
aus der liebenswürdigen, jedem neuen Eindruck zugänglichen Natur Müllers
hervor. Die Mosaikarbeit aus den verschiedenen Excerpten verräth sich näm¬
lich auch dadurch, daß die Urtheile nach den Quellen wechseln. Dieser Uebel¬
stand wäre bis zu einem gewissen Grade zu vermeiden, der vorhcrgcnannte
aber nicht. Man hat immer das Gefühl, daß der Geschichtschreiber eine
Maske trägt, die ihm nicht ziemt, und dabei geht der Hauptreiz der Quellen


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[0214] Papieren, bevor er an die Ausarbeitung ging. Allein dieser äußerliche Um¬ stand kam nur der innern Ueberzeugung zu Hilfe. Er bemühte sich, seine Geschichten in dem Ton seiner Quellen zu erzählen, nur so, daß sein aus vielfachen Quellen gewonnenes Wissen und seine moderne Nildung dabei nicht verloren ging. Es sollte gewissermaßen eine ideale Quelle hergestellt werden, die das Wissen und die Einsicht aller Zeitgenossen in sich vereinigte. Man kann nicht leugnen, daß er dadurch zum Theil sehr große Wirkungen hervor¬ brachte. Schilderungen, wie die von der Schlacht bei Sempach und Nancy, auch von der Verschwörung im nulli, wird man noch heut mit Erbauung lesen, die individuellen Fehler, die uns hier nichts angehn, bei Seite gelassen. Es kam ihm dabei die eigenthümliche Concentration seines Stoffes zu Hilfe, der sich innerhalb bestimmter localer Grenzen bewegt und bei der großen Einheit der Zustände auch die Einheit des Tons verstattet; hätte er sein Ge¬ schichtswerk bis über die Reformation hinausgeführt, so würde ihm die Form viel größere Schwierigkeiten gemacht haben, wie man das schon aus seinen 24 Büchern allgemeiner Geschichte entnehmen kann. Aber schon in der Schweizergeschichte treten Uebelstände dieser Form deutlich hervor. Wenn zu einzelnen großen Episoden, namentlich da, wo das Gemüth in Anspruch ge¬ nommen wird, der Chronikenstil vortrefflich paßt, so ermüdet er durch seine Ausdehnung auf die ganze Geschichte, nicht blos wegen der Ausführlichkeit, mit der auch unbedeutende Umstände dargestellt sind, sondern hauptsächlich wegen der künstlich gesteigerten Stimmung. Diese Art von Naivetät ergibt sich sehr leicht, um bei der Schillerschen Terminologie stehn zu bleiben, als ein Product der Sentimentalität. Man merkt doch heraus, daß nicht ein Schweizer des 14. oder 1,5. Jahrhunderts, sondern ein gebildeter Mann unserer Zeit diese Chronik geschrieben hat, kurz daß man mit uns Komödie spielt. Nichts widerspricht der wahren Einfachheit so sehr, als die studirte Simplicität, welche sich künstlich in den Voraussetzungen ihrer Bildung zurückschraubt. Das ist nicht blos ein individueller Fehler, er liegt in der Gattung, wie man sich in Barantes Burgundischer Geschichte davon über¬ zeugen kann, die im Wesentlichen von demselben Princip ausgeht. Am besten gelingt so etwas noch in kleinen populären Schriften, wie z. B. in Scotts Erzählung eines Großvaters aus der schottischen Gesckichte. wo frei¬ lich die Geschichte ganz in die Legende aufgeht. Anderweitige Fehler gehn aus der liebenswürdigen, jedem neuen Eindruck zugänglichen Natur Müllers hervor. Die Mosaikarbeit aus den verschiedenen Excerpten verräth sich näm¬ lich auch dadurch, daß die Urtheile nach den Quellen wechseln. Dieser Uebel¬ stand wäre bis zu einem gewissen Grade zu vermeiden, der vorhcrgcnannte aber nicht. Man hat immer das Gefühl, daß der Geschichtschreiber eine Maske trägt, die ihm nicht ziemt, und dabei geht der Hauptreiz der Quellen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_105276/214>, abgerufen am 27.07.2024.